[ ... ]Er [ Karlheinz Deschner ] mutete sich eine unglaublich anmutende wissenschaftliche Lektüre zu, die, wenn ich richtig gezählt habe, seinerzeit schon ca. 1000 Titel umfasste. Er dürfte alles verarbeitet haben, was die Entstehung und die Geschichte des Christentums angeht. Die Bilanz war, was die Nachfolge Christi angeht, niederschmetternd, und ich kenne Kommilitonen, die nach der Lektüre von Deschners frühem opus magnum das Studium der Theologie aufgaben.
Mit leidenschaftlicher Exaktheit demonstrierte Deschner, wie die Lehren der Bergpredigt, ihr zum Teil revolutionärer, mit dem Alten Testament brechender Ansatz mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Kaiser Konstantin in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Wie die Gebote der Nächsten- und der Feindesliebe, die den Christen ein paar Jahrhunderte lang den Militärdienst verboten, umgebogen und staatsdienlich, kriegstauglich gemacht wurden. Aus Wehrdienstverweigerern und Märtyrern unter den früheren römischen Kaisern wurden nun Waffenträger und Feldprediger, die die Schwerter und Lanzen segneten. Er zeigte, wie die urchristliche Gütergemeinschaft einem urwüchsig-dauerhaften Besitzdenken wich, wie sich die kirchliche Hierarchie unter dem römischen Episkopat verfestigte, wie konkurrierende christliche Glaubensrichtungen bekämpft, verleumdet, notfalls auf Konzilien mit Stöcken niedergeschlagen wurden und wie das Papsttum mit allen Mitteln machiavellistischer Politik, lang vor Machiavelli, zu Großgrundbesitz, Größtgrundbesitz und zur weltlichen Großmacht aufstieg, gegebenenfalls anhand massiver Fälschungen: man denke nur an die sog. Konstantinische Schenkung, der wir den Kirchenstaat verdanken.
Immer wieder stieß Deschner auf die peinigenden Widersprüche zwischen den Geboten Christi, soweit wir sie rekonstruieren können, und der Praxis der Kirche und ihrer Diener, und die Zahl der himmelschreienden Untaten, auf die man beim Gang durch die Jahrhunderte stößt, ist wahrhaft Legion. Man denke nur an die Kreuzzüge, an die Vernichtung der Katharer, Albigenser und Waldenser (von denen ich vermutlich abstamme), an die Bauernkriege, an die Hexenverfolgungen, von denen man auch in der Markgrafschaft Ansbach und in den fränkischen Bistümern von Bamberg über Würzburg bis Eichstätt ein langes, blutiges und im wahren Wortsinne feuriges Lied singen müsste, und man stellt mit Deschner fest, daß sich Katholizismus und Protestantismus bei aller Feindschaft, der wir ja den 30-jährigen Krieg verdanken, mitunter in ihrer Menschenfeindlichkeit und Grausamkeit, auch in ihrem Antisemitismus verdammt wenig unterschieden.
Es gab die fatalsten Brückenschläge - was etwa Luther hetzend über die Juden schrieb, das konnte 400 Jahre gut der “Stürmer” brauchen -, und es gab die verrücktesten Allianzen und Spaltungen.
Man braucht nur an die anfeuernde Rolle der Kirchen in den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu denken, als Christen gegen Christen kämpften und die Kirchen allen Kriegsparteien versicherten “Gott mit uns”, “Gott mit euch” anstatt jeden zu exkommunizieren, der die diplomatischen Feindseligkeiten eröffnete und die Waffe hob.
Wenn heute einzelne Kirchenvertreter behaupten, die Auszeichnung Deschners sei ein Schlag gegen die Kirche, so muß man leider entgegen, die schrecklichsten Schläge hat die Kirche in den vergangenen 2 000 Jahren, nehmt nur alles in allem, immer gegen sich selbst geführt, gegen ihre eigenen Gläubigen, gegen die Anhänger konkurrierender christlicher Glaubensrichtungen oder die anderen monotheistischen Religionen aus dem Morgenland.
Hatte man vielleicht geglaubt, das Thema Kirche sei mit “Abermals krähte der Hahn” erschöpft gewesen, der irrte sich. Es ließ Deschner bis zu seinem 80. Geburtstag und darüber hinaus nicht los. In wöchentlich 100-stündiger Arbeit legte er seit 1986 acht Bände seiner “Kriminalgeschichte des Christentums” vor, rund 4600 Seiten, denen noch zwei weitere Bände folgen sollen. Etwas Vergleichbares in dieser Materialfülle und Exaktheit gibt es leider für keine andere Religion der Welt. Ironisch könnte man sagen: Gott gebe Karlheinz Deschner ein so langes Leben, daß er sich nach dem 85. oder 90. Lebensjahr beispielsweise in ähnlicher Ausführlichkeit mit der Kriminalgeschichte des Islam beschäftigen könne. Dies apart gesprochen.
Immer eingeräumt, daß es auch vorbildliche, ebenso demütige wie mutige Christen gab, die ihr Leben für ihre Prinzipien opferten - man denke nur an den christlichen Widerstand im III. Reich, an die Bekennende evangelische Kirche und die katholischen Pfarrer in den KZ’s - , dies immer eingeräumt, wird es wohl keine nennenswerte Schandtat in Namen des Christentums geben, die Deschner entgangen wäre, handle es sich, weil wir in Wolframseschenbach sind, nun um das Wüten des Deutschen Ordens in Polen und im Balticum, oder um die unbarmherzige Niedermetzelung der Indios in Lateinamerika durch die spanischen Conquistadoren, von der wir beispielsweise durch Las Casas wissen.
Es gibt wohl keinen Zweifel: hätte ein Zufall oder eine “Fügung” einen Mann vom Schlage Deschners in ein früheres Jahrhundert hineingeboren, er wäre mit höchster Wahrscheinlichkeit wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen gelandet und man hätte ihn, mit besonderer Grausamkeit, vielleicht auf kleinem Feuer geröstet.
Es ist gewiß nicht übertrieben, wenn der Münchner Philosophie-Professor Wolfgang Stegmüller Karlheinz Deschner den “bedeutendsten Kirchenkritiker” des 20. Jahrhunderts genannt hat, und es ist nicht nur die “herrliche Mischung von leidenschaftlichem Engagement, klarster Logik, beißendem Sarkasmus und überwältigendem Wissen”, die ihn zum “modernen Voltaire” stempelt, es ist auch die Einheit von Denken und Tun. [ ... ]
Quelle:
Laudatio auf Karlheinz Deschner anläßlich der Verleihung des Wolfram-von-Eschenbach Preises des Bezirks Mittelfranken (Hervorhebung von mir)