Hat Sarrazin nicht ev. doch Recht?

Themis

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Wenn man die Verfassung von der gesellschaftlichen Konstitution losgelöst betrachtet, könnte man ja auch ohne Probleme in einer absoluten Monarchie oder einem totalitären Regime leben, oder?

So mit Gleichberechtigung von Mann und Frau und so? Da wird sich aber so mancher Kopftuchfreund nicht mit anfreunden können...
Tja, aus denen werden dann, so wie es aussieht, auch nie Patrioten.
 

haruc

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Wenn man die Verfassung von der gesellschaftlichen Konstitution losgelöst betrachtet, könnte man ja auch ohne Probleme in einer absoluten Monarchie oder einem totalitären Regime leben, oder?

Es geht ja, sofern ich das korrekt interpretiert habe, nicht darum sich einfach nur mit "der Verfassung" zu identifizieren, egal was drin steht, sondern vielmehr um die spezielle Verfassung der BRD, die sich Grundgesetz nennt. Es geht also vorrangig um die Identifikation mit Werten wie der Unantastbarkeit der Menschenwürde, sowie den Idealen von Gedanken-, Religions und Meinungsfreiheit, Presse- und Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, und den Prinzipien von Föderalismus und Parlamentarismus, dem Recht auf Eigentum, körperliche und geistige Unversehrtheit, Bildung und soziale Grundabsicherung und so weiter. Das ist mit einer absoluten Monarchie oder einem totalitären Regime nicht vereinbar.

Der Verfassungspatriotismus würde demnach beinhalten, sich mit den obengenannten Werten, Idealen und Prinzipien zu identifizieren und zwar in einer Weise, dass man diese nicht als Selbstverständlichkeit, sondern auch als schützenswertes Gut betrachtet. Schützenswert nicht nur gegen äußere Bedrohungen (was heutzutage wohl kaum vorkommen wird) sondern vor allem gegen diejenigen, die diese Ordnung unterlaufen, unterminieren und in Gefahr bringen wollen - und nicht zuletzt gegen den Staat selber.

Der "Verfassungspatriot" muss also auch wachsam sein.

Nun kann man einwenden: "hey, das erinnert ich an 1984. Woher weiß ich, dass diese Ordnung so toll ist und andere nicht?"
Es gibt keine endgültige Wahrheit. Es ist letzten endes eine Art Glaubens- und Haltungsfrage. Der Mensch als soziales Wesen muss ja immer in einer Gesellschaft leben (ausgenommen Eremiten), und jede Gesellschaft hat von Natur aus eine Grundausstattung an Werten und Idealen, nach denen das Zusammenleben organisiert ist. Diese sind in der Regel historisch entstanden und leiten sich zum Teil aus der direkten Lebenswirklichkeit der Menschen ab.

Man muss sich also fragen in was für einer Gesellschaft man leben möchte. In einer Gesellschaft, in der man (abgesehen von Mord, Diebstahl, Betrug, Körperverletzung, Rufschändung und so weiter) von der Verfassung her das Recht hat so ziemlich alles zu tun was man möchte und wie man es für richtig hält? Oder eben in einer Gesellschaft, wo dir vorgeschrieben wird, was du zu glauben und zu denken hast, wie du die Welt zu sehen hast und wo dein Leben praktisch täglich enden kann, weil irgendwer der Meinung ist, du seist eine Hexe/ein Ungläubiger/ ein Untermensch....?

Die gegenwärtige Verfassung der BRD ist ihrem Inhalt nach historisch gewachsen und in Ihr sind die Erfahrungen von 13 Jahren Weimar und 12 Jahren NS-Diktatur eingebunden. Gibt es im Moment eine bessere Verfassung für Deutschland? Alles davor scheiterte, aber das was wir jetzt haben scheint ja seit 60 Jahren zu funktionieren (und ich meine damit nicht irgendwelche Konflikte in der Politik, die mit der Verfassung rein gar nichts zu tun haben, aber immer wieder gerne in die Diskussion eingeworfen werden).

Ist es also verwerflich zu verlangen, dass jemand der hier leben möchte (er wird schon seine Gründe haben) den Versuch unternimmt, sich mit diesen teuer erkauften Rechten und Freiheiten anzufreunden und sie, so wie er sie für sich beansprucht, auch für andere gelten zu lassen?
Vermutlich ja, zumindest was die Realisierung des letzten Halbsatzes anbelangt. Aber der Mensch ist ja ein Entwicklungsoffenes Wesen und nie fertig in seiner Entwicklung. Sollen also die rechten Maßstäbe den Weg zu einem besseren Menschengeschlecht weisen. Ich weiß, das klingt ziemlich ironisch, aber es ist ja immer das Streben nach dem noch nicht erreichten, was die Entwicklung weiter treibt.
 

Themis

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Der von Dir zitierte Teil bezog sich auf den Liberalen und widerspricht dem von Dir geschriebenen nicht.
 

Themis

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Vielleicht liegt das Mißverständnis aber auch bei mir.

Ich dachte nur, wenn man von sich behaupten kann, das man nicht wegen der Verfassung hier sei, welche ja letztendlich idealerweise ein undogmatisches Abbild einer gesellschaftlichen Entwicklung über einen längeren Zeitraum darstellt (wie von Haruc auch beschrieben), und daher auch aufgrund der hier gemachten Erfahrungen die Freiheit des Individuums garantieren und dem Staat begründete Kompetenzen ohne das erstere zu beschneiden zuweisen soll, dann frage ich mich, ob man, wenn man der durch die Verfassung bekräftigten Grundnorm kein Privileg zugesteht, nicht auch die Verfassung bzw. das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland irgendwelchen anderen Rahmenbedingungen unterordnen könnte?

Warum also sollte man dann noch in Deutschland bleiben?
 

Ein_Liberaler

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Sorry, aber das ist meine Heimat, mein Volk und meine Kultur. Deswegen gehöre ich hierher, und nicht wegen unserer zugegebenermaßen sehr erfreulichen Verfassung. Die Schweizer Verfassung ist auch sehr schön, aber ich bin definitiv kein Schweizer, und ich würde nicht einmal dann einer werden, wenn ich durch irgendeinen Zufall, vielleicht durch Heirat, die Schweizer Staatsbürgerschaft erwürbe. Die Schweiz wäre natürlich ein prima Exil, wenn hier nochmal alles vor die Hunde geht, aber das wäre Frankreich auch. Die französische Verfassung finde ich nicht gerade toll, aber sie ist demokratisch und rechtsstaatlich, und im französischen Exil ließe es sich schon aushalten. Oder anders: Ich wünsche Deutschland eine vorbildliche Verfassung, weil es mein Land ist. Es ist nicht deshalb mein Land, weil es eine so gute Verfassung hat.
 

Themis

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Was aber nicht heisst, dass jemand anderes sich nicht über die Verfassung bzw. die konstitutionellen Grundrechte einem Land gegenüber emotional gebunden fühlen kann. Die USA sind da ein gutes Beispiel.
 

Ein_Liberaler

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Sicher, aber Deutschland ist ein ehemaliger Nationalstaat, dessen Umgestaltung zum Einwanderungsland gerade erst begonnen hat.
 

haruc

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Themis schrieb:
Die USA sind da ein gutes Beispiel

Richtig, die USA sind imho das beste Beispiel für eine Gesellschaft, deren Dreh- und Angelpunkt bezüglich Identifikation die Verfassung ist.

Die Ursache dafür findet sich nicht zuletzt auch in der Entstehungsgeschichte der USA. Theoretisch gesehen ist die Geschichte der USA der Beweis dafür, dass man nicht irgendwelche ethnischen Kriterien erfüllen muss, um sich mit irgendwas Identifizieren zu können. Praktisch scheiterte der Grundsatz der Unabhängigkeitserklärung, weil Schwarze eben nicht als Menschen angesehen wurden. Deren Situation besserte sich ja erst seit 1964.

Letztendlich bleibt aber das Faktum bestehen, dass eine Gesellschaft, die friedlich und produktiv leben will, und zwar in einem Miteinander, und nicht gegeneinander, gemeinsamer Grundwerte bedarf, wie sie zb. im GG zum Ausdruck kommen und zur Maxime allen Handelns erhoben werden (theoretisch). Es muss also eine weltanschauliche "Kompatibilität" herrschen, was natürlich nicht heißt, dass alles konform sein muss. Man muss aber auf jeden Fall eine gemeinsame Basis haben, auf der soziale Interaktion funktioniert.
 

penta

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ob die USA ein gutes beispiel für eine gelungene Integrative Gesellschaft ist darf wohl bezweifelt werden, soziologen und gesellschaftswissenschaftler sehen zum funktionieren der USA einerseits das alle die da hinkommen und und wohnen sind oder waren einwanderer, zweitens haben bei der entstehung zwei große ethnische gruppen einen sehr hohen preis bezahlt ( Indianer, Afrikaner) . Vergessen wird all zu oft das der grundstein des amerikanischen modells mit dem blut von millionen unschuldiger getränkt ist.
Europa sollte sich schon offen für die welt halten aber nicht um jeden Preis.
LG Penta
 

agentP

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Sorry, aber das ist meine Heimat, mein Volk und meine Kultur.
Was mir die Verfassung erheblich sympathischer macht, als Heimat, Volk und Kultur ist, dass sie ergeblich greifbarer ist.
Unterhalte dich mit 5 Leuten, was für sie ihre Kultur ist und du bekommst 6 unterschiedliche Erklärungen.
Ob ein bayerischer Bergbauer und ein friesisch sprechender Krabbenfischer sich auf eine gemeinsame Vorstellung von Heimat, Volk und Kultur einigen können bezweifle ich. Eine gemeinsame Bundesverfassung haben sie mit Sicherheit.
Insofern finde ich dieses Konzept unbefriedigend und unpraktisch, selbst ohne Zuwanderung.
Da ich davon ausgehe, dass die Weichen Richtung Einwanderungsland längst gestellt sind, halte ich es natürlich erst recht für nötig hier umzudenken.


Vergessen wird all zu oft das der grundstein des amerikanischen modells mit dem blut von millionen unschuldiger getränkt ist.

Kannst du mir mal konkret erklären inwiefern das amerikanische Konzept des melting pots und des Verfassungspatriotismus mit dem Blut Millionenn Unschuldiger bezahlt wurde?
 

agentP

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Einen recht guten Artikel über die Geschichte der Zuwanderung in Deutschland gibt es im Geschichtsblog.
Besonders spannend auch das Memo von Heinz Kühn, dem ersten Ausländerbeauftragten, der 1979 schon so verwegene Vorschläge machte wie Anerkennung der faktischen Einwanderung bei Ausschluß weiterer Anwerbung.
Wenn man sich anschaut, was heute so diskutiert wird wurde das Memo offenbar 32 Jahre lang Memo von Regierungen aller Couleur offenbar mit Nachdruck ignoriert.
 

wintrow

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Da ich davon ausgehe, dass die Weichen Richtung Einwanderungsland längst gestellt sind, halte ich es natürlich erst recht für nötig hier umzudenken.
Schonmal die Bürger gefragt ob wir als Einwanderungsland gelten wollen. Bei allen respekt aber noch eine Volksgruppe wo knapp die Hälfte vom Sozialamt lebt kann Deutschland nicht mehr verkraften. Vielleicht solltest du das auch mal in betracht ziehen AgentP anstatt hier dauernd gegen berechtigte Einwände bei Einwanderung zu argumentieren.
 

sercador

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Der Status "Einwanderungsland" kann genau jenes Szenario verhindern, Wintrow. Einwanderer sind andere Menschen als Flüchtlinge.
Ich glaube, du hast da was durcheinander bekommen.
 

vonderOder

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sercador schrieb:
Der Status "Einwanderungsland" kann genau jenes Szenario verhindern, Wintrow. Einwanderer sind andere Menschen als Flüchtlinge.
Ich glaube, du hast da was durcheinander bekommen.
ah ja, die dann einwandern brauchen dann nicht von geldlichen staatlichen Zuwendungen leben?
 

sercador

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Einwanderung kann man steuern.
Siehe Kanada, USA, Australien, usw.
Es werden Leute hereingelassen, die zur Arbeitsmarktsituation passen.
 

vonderOder

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sercador schrieb:
Einwanderung kann man steuern.
Siehe Kanada, USA, Australien, usw.
Es werden Leute hereingelassen, die zur Arbeitsmarktsituation passen.
die Einwanderung von Arbeitskräften heben wir doch schon. oder nicht. oder willst Du die vielen Türken als Flüchtlinge bezeichnen?
 
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