Philosophie, Stufenlogik und der gordische Knoten

Trestone

Großmeister
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Hallo,

um bei schwer lösbaren Problemen voranzukommen, kann man versuchen, die Regeln zu ändern (wie Alexander beim Gordischen Knoten).
Euler und Gauss haben dies mit den komplexen Zahlen erfolgreich getan und konnten so viel mehr als nur das bis dahin unlösbare x*x = -1 lösen.
Der Trick dabei war die Einbeziehung einer neuen Dimension.

Analog erschien es mir naheliegend bei hartnäckigen Problemen in Mathematik und Philosophie die Logik zu verändern,
die ja als Grundregel jeweils vorausgesetzt wird.
Idealerweise hätten dabei möglichst viele der klassischen Regeln, Begriffe und Schlussweisen erhalten werden sollen (zumindest für die Alltagswelt), denn ein jahrtausende bewährtes Werkzeug lässt sich wohl nicht einfach so ablösen.

Mein schließlich gefundener Ansatz ist so etwas wie eine Mischung aus komplexen Zahlen und (einer stark vereinfachten) Relativitätstheorie:
Es wird eine neue Dimension (die Stufen 0,1,2,…) eingeführt und der Grundbegriff der Wahrheit wird mit „Bezugssystemen“ (den Stufen) verbunden.

Grundaussage: Eine Aussage ist nicht „wahr“ oder „falsch“, sondern hat einen Wahrheitswert (nur) je Stufe 0,1,2, …
und kann in unterschiedlichen Stufen auch unterschiedliche Wahrheitswerte annehmen.

Zur Erklärung, weshalb wir von diesen Stufen bisher so wenig wahrnahmen (falls sie existieren), bieten sich zwei Modelle an:

Modell 1: Die für unseren Alltag und unser Überleben wichtigen Eigenschaften sind stufenunabhängig.

Modell 2: Wir nehmen nur jeweils eine Stufe wahr, innerhalb einer Stufe gilt die klassische Logik (Gruß von Platons Höhlengleichnis).

Leider ist die „Rückübersetzung“ von Stufenlogik in klassische Logik nicht so einfach wie bei den komplexen Zahlen.
Dort rechnet man z.B. in der Physik zunächst komplex und verwendet vom Ergebnis nur den Realteil, um „klassische“ reale Werte zu erhalten.
Stufenlogische Aussagen haben keinen so einfach als „real“ zu interpretierenden Anteil:
Wenn eine Aussage in einer Stufe wahr und in einer anderen Stufe falsch ist,
so lässt sich kein klassischer Wahrheitswert zuordnen, die Aussage ist dann „anders“.

Ein klassisch „anderer“ Satz ist der Lügnersatz:
Der in klassischer Logik paradoxe Satz „Dieser Satz ist nicht wahr“ wird in Stufenlogik zu
„Dieser Satz ist in Stufe t+1 wahr, wenn er in Stufe t nicht wahr ist“.
Er ist in Stufe 0 unentschieden (vgl. Link unten), in Stufe 1 wahr, in Stufe 2 falsch, in Stufe 3 wahr, in Stufe 4 falsch, usw.,
also in Stufenlogik nicht paradox.

Zu Details und Grundregeln der Stufenlogik vgl. http://www.ask1.org/fortopic20575-0-asc-0.html

Ein Hauptmerkmal der Stufenlogik ist ihr Umgang mit Widersprüchen.
Wenn man klassische Widerspruchsbeweise in Stufenlogik formuliert,
zeigt sich fast immer, dass beim konstruierten Widerspruch sich zwei Aussagen (bzw. Wahrheitswerte) in verschiedenen Stufen gegenüberstehen,
d.h. dass in Stufenlogik gar kein Widerspruch vorliegt.
In der Stufenlogik müssten für einen Widerspruch die Wahrheitswerte in der gleichen Stufe stehen.

Letztlich wird mit der Stufenlogik sogar der Identitätsbegriff erweitert.
Denn wenn etwas in einer Stufe eine Eigenschaft besitzen und in einer anderen diese nicht besitzen kann,
dann kann sie auch verschiedene (und sich widersprechende) Eigenschaften in verschiedenen Stufen besitzen.
D.h. (in verschiedenen Stufen) ganz verschieden erscheinende Dinge könnten identisch sein.

Ein philosophisch dazu passendes Beispiel sind Geist und Körper.
Es ist denkbar, dasss es „etwas“ E gibt, dass in geradzahligen Stufen ein Körper K ist,
und in ungeradzahligen Stufen ein Geist G.
Die Ursachen einer Veränderung von K könnten in geradzahligen Stufen physisch sein
und in ungeradzahligen Stufen psychisch.
Je nach Stufe gäbe es also eine andere Art von Ursache – und über alle Stufen gesehen hätte keine einen Vorrang.
(Das würde wohl weder Materialisten noch Idealisten gefallen …)
Warum dieses „etwas“ sich in den Stufen so verschieden zeigt muss ich aber offen lassen.

Leider habe ich keine direkten Hinweise auf die Natur der Stufen.
Man kann Stufen als Reflexionsstufen sehen oder als Metastufen von Sprache und Denken.
Auch scheinen Ursache und Wirkung und Wahrnehmung und Wahrgenommenes jeweils um mindestens eine Stufe auseinanderzuliegen.

Am meisten haben die Stufen Ähnlichkeit mit Zeitabschnitten.
Dinge können zu unterschiedlichen Zeiten ja auch unterschiedliche Eigenschaften haben.
Und Wirkungen können nur aus der Vergangenheit ausgehen und nicht aus Gegenwart und Zukunft.
Aber ganz sind meine Logikstufen wohl nicht mit Zeit identisch,
vielleicht allenfalls mit einem Teilaspekt der Zeit.

Bisher bleiben die Stufen v.a. ein formaler Trick, mit dem man logische Grenzbereiche wie Selbstbezügliches,
Unendliches und Paradoxa leichter zugänglich machen kann.
Insbesonder lässt sich damit eine Mengenlehre mit Menge aller Mengen definieren
und natürliche Zahlen mit Arithmetik (und wohl ohne den Gödelschen Unvollständigkeitssatz).
Als Preis muss man wohl die Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung (über alle Stufen) aufgeben,
dafür wäre das Halteproblem für Stufenalgorithmen nicht weiter unlösbar.

Aus meiner Sicht überwiegen die Vorteile der Stufenlogik, aber bisher habe ich noch niemand gefunden,
der sie ernst nimmt und meine Untersuchungen unterstützt
oder nach philosophischen Fragen sucht,
die nach Durchschneiden dieses gordischen Knotens lösbar werden …

Gruß
Trestone
 

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Hallo Trestone,

heute kann ich mir nur kurz Zeit nehmen, am Wochenende wohl mehr...

Deswegen zuerst einmal ein paar Gedanken zu deinen letzten Zeilen - und noch nicht zu der Stufenlogik selbst:

Trestone schrieb:
Aus meiner Sicht überwiegen die Vorteile der Stufenlogik, aber bisher habe ich noch niemand gefunden,
der sie ernst nimmt und meine Untersuchungen unterstützt
oder nach philosophischen Fragen sucht,
die nach Durchschneiden dieses gordischen Knotens lösbar werden …
Du meintest ja selbst, dass die Benutzung der altbewährten Pfade bisher wohl ziemlich gut funktioniert. Allerdings stößt auch die Fachwelt auf Ungelöstes. Hier im Forum wurden auch schon die Finger auf ungelöste Paradoxe der Mathematik, der Logik und der Physik gelegt.
Die Frage muss man sich allerdings auch stellen, wenn es vielleicht sogar um einen Paradigmenwechsel gehen soll - wie wird eine Diskussion um ein Paradigma ausgelöst? Muss hier und da nicht das Gedankengerüst schon wanken? Müssen nicht schon ungelöste Fragen laut nach Antwort schreien?

Und: Wie erregt der Denker viel Aufmerksamkeit? Wo muss er seinen Denkansatz platzieren, damit sich die Diskussion um diesen Ansatz heiß läuft? Die heiße Debatte meint dann nämlich auch, dass die Gegner den Ansatz der Feuerprobe aussetzen oder sogar probieren sie in der Luft zu zerreißen. Aber dann hat sie die Aufmerksamkeit. :) Der Ansatz kann ja dann nicht mehr totgeschwiegen werden.

Besten Gruß
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Ehrenmitglied
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Hallo Trestone,

nach und nach erschließen sich die Gedanken.

Trestone schrieb:
Zur Erklärung, weshalb wir von diesen Stufen bisher so wenig wahrnahmen (falls sie existieren), bieten sich zwei Modelle an:

Modell 1: Die für unseren Alltag und unser Überleben wichtigen Eigenschaften sind stufenunabhängig.

Modell 2: Wir nehmen nur jeweils eine Stufe wahr, innerhalb einer Stufe gilt die klassische Logik (Gruß von Platons Höhlengleichnis).
Vorausgesetzt, "Stufen" existieren. Schließt Modell 1 das Modell 2 aus? Lassen die für unser Überleben wichtigen Eigenschaften sich nicht genügend mit der klassischen Logik erfassen?
Ich denke, dass der Mensch nicht die technischen Mittel noch die theoretischen Konstrukte hatte, um eine Abkehr oder eine Integration der klassischen Logik in einer weiteren Logik zu fordern (wie ein neues Modell der Physik die alte Physik immer noch erklären müsste, Beispiele sind die Relativität und die Quantenphysik). Es geht insbesondere, wie du sagst, um Grenzfälle, bisher Unerklärliches, für die eine Antwort gefunden werden soll. Das Denken und Erklären, das Suchen nach Gesetzen in Dingen, die sich kaum darstellen, insbesondere kaum oder sogar nicht messen lassen, ist ein junges Phänomen.

Besten Gruß
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Trestone

Großmeister
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Hallo streicher,

ja ich glaube auch, dass für Alltagsfragen die klassische Logik ausreicht.

Allerdings denke ich, dass die "Experten" schon einmal intensiver nach Alternativen bzw Erweiterungen der Logik gesucht haben,
z.B. als der "Konstruktivismus" diskutiert wurde.
Heute komme ich mir oft wie ein Rufer in der Wüste vor,
allerdings kann das auch am Medium Internetforum liegen,
dass wohl auch weniger genutzt wird.

Da das Halteproblem der Informatik mit Stufenlogik nicht mehr unlösbar ist,
könnte es durchaus auch wichtige praktische Anwendungen der Stufenlogik für neue Computer geben,
wenngleich mein Hauptinteresse mehr philosophisch ist
(Unendlichkeitsmodelle, Geist und Körper, Bewußtsein, ...).

Ob die Stufenlogik "real" ist, weiß ich nicht,
ich halte sie zumindest für möglich.
Ob sich Modell 1 und 2 zur Erklärung, warum wir im Alltag so wenig von Stufen bemerken auch kombinieren lassen,
habe ich nicht untersucht, da mir diese Frage nicht so wichtig ist.

Gruß
Trestone
 

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