Von der Freiheit und vor dem Kopftuchurteil. Von Maryam Brigitte Weiß (Frauenbeauftragte des ZMD)
Kann man von einer Frau verlangen, dass sie ihr Kopftuch auszieht, damit sie eine Arbeitsstelle bekommt? Warum Panik in deutschen Landen vor dem Kopftuch?
Szenen aus Deutschland 2003 :
Menschen mit Ringen durch die Nase und die Wangen ; Schmucksteinchen (piercing´s) in Kinn und Bauchnabel ; tätowierte Bilder (tatoo´s) an allen erdenklichen (und undenklichen) Körperstellen ; Haare in allen Farben ; Irokesenschnitte, Rastazöpfe und vielfältigste Frisuren ; enge und kurze Röcke um dünne und dicke Hüften ; enge leggings über verschiedenste „Oberschenkelweiten“ ; Spaghetti-Träger an knappen Oberteilen, die viel „Einsicht“ in mehr oder weniger starke Oberweiten bieten ; weiße Hosen ohne Futter, dafür mit viel „Durchsicht“ über weibliche Körper ; Jeans, die so knapp auf der weiblichen Hüfte sitzen, dass der String-Tanga (bewusst hoch gezogen) hinten auf dem taillenfreien Rücken als schmales Band in rosa oder schwarz zu sehen ist ; knutschende Pärchen, deren Hände auf dem Körper des Partners etwas zu suchen scheinen ; Männer mit aufgeknöpften Hemden geben den Blick auf Kettchen und Bäuche frei („Wir zeigen freizügig, was wir haben!“ und „Ich kann schließlich anziehen und tun was ich will!“ und „Mein Körper gehört mir!“).
Themen im Vormittags- und Nachmittagsprogramm des Fernsehens aus jedem Lust- („Wir sind ja so frei!“) und Unlust- („Kein Bock auf Arbeit“) Bereich ; ausführliche, in jedes Detail gehende Bettszenen schon im Vorabendprogramm. Dazu reisserische Aufmachungen der Boulevardpresse, wer mit wem was getan hat und wie ein Mörder sein Opfer gequält und getötet hat und dafür als unzurechnungsfähig eingestuft wird („Ich war leider betrunken, hatte eine schwere Kindheit, wurde missbraucht.“).
Dazu kommen Bilder auf Schulhöfen von mit Drogen handelnden Schülern ; Kinder mit Handy und disc-man, aber ohne Mittagessen zu Hause ; „Patchwork-Familien“ : meine, deine, unsere Kinder ; überzogene Girokonten ; Schuldnerberatung ; Urlaub auf Mallorca auf Pump ; nicht bezahlte Handy-Rechnungen („Dann machen wir einfach einen neuen Vertrag“) ; offene Prostitution für jeden sichtbar ; erzwungene Prostitution : Menschenhandel mit Frauen aus aller Welt ; überfüllte Frauenhäuser ; Spielsucht in Automatensalons ; Wochenenden, die in Discos durchgetanzt und durchgetrunken werden („Ich lebe doch nur einmal!“).
Fast 5 Millionen Arbeitslose ; zu wenig Ausbildungsstellen ; jeder 3. Auszubildende verliert seine Lehrstelle wegen „chronischer Unlust“ („Jeden Morgen so früh aufstehen?“ – „Ich bin doch nicht deren Bimbo!“) schon in der Probezeit ; die Zahlen der jugendlichen Sozialhilfeempfänger steigt ständig ; die Zahlen der noch schulpflichtigen jungen Mütter steigen trotz Aufklärung weiter an ; immer häufigeres Schulversagen von Kindern und Jugendlichen wird gedeckt durch Anheben von Notenspiegeln bei Klassenarbeiten (PISA-Studie ?!).
Doch das ist Freiheit mit ihren „Nebeneffekten“. Freiheit als Unabhängigkeit von jedem äußeren, inneren oder durch Menschen oder Institutionen bedingtem Zwang , Freiheit als ein Vermögen des Willens jedes Individuums, sich Handlungsziele zu setzen bzw. nach bestimmten ethischen Normen zu handeln. „liberalis“ bezeichnet im Lateinischen „die Freiheit betreffend“ die Auffassung, die die Freiheit des Einzelnen („Ich bin so frei“) als grundlegende Norm des menschlichen Zusammenlebens ansieht und eine fortgesetzte Emanzipation des Individuums fordert.
Unsere Gesellschaft leistet sich nach außen hin also den Luxus der Individualität. „Erlaubt ist, was gefällt.“ Dabei muss nicht dem Betrachter gefallen, was er sieht. Es reicht, wenn es dem gefällt, der es tut.
Und was tut der, dem so viel Freizügigkeit, wie oben in der Mode beschrieben, nicht gefällt? Der kann ja weggucken und schweigen, will er nicht in den Verdacht geraten, ein Boykotteur von „Freiheit“ und zugleich von Frieden und Sicherheit zu sein.
Und was tut die, die sich nicht so freizügig zeigt? Die sich vielleicht sogar bedeckt? Die vielleicht sogar darauf besteht, langärmelig und ihr Haar bedeckend durch die Straßen zu gehen? Kann für diese Frau auch gelten „Erlaubt ist, was gefällt.“ ? Was ist mit ihrem Recht auf Freiheit?
Tatsache ist, dass nach der Heitmeyer-Studie 71 % der deutschen Bevölkerung die islamische Lebensweise und damit die Bedeckung der Frau mit langärmeligen Kleidern und Kopftüchern ablehnen und nicht sehen wollen. Tatsache ist, dass, wer sich auszieht, eher mit Verständnis für seine Launen rechnen kann als jemand, der nach einer Weltreligion begründet sich zwar modisch, aber eben nicht ausziehend kleidet. Tatsache ist, dass das, was dem Einen an Rechten zugesprochen wird, noch lange nicht für den Anderen gilt.
Freiheit für alle oder doch nur für Bestimmte?
Ist eine Frau nur schön, wenn sie ihre körperlichen Vorzüge immer und überall offen präsentiert? Besteht eine Frau nur aus körperlichen Vorzügen? Gilt es nicht viel eher, einen Menschen nach seinem Charakter und Können zu beurteilen?
Der Bürovorstand einer großen Firma sucht Bürokauffrauen. Unter den Bewerberinnen sind auch junge Frauen mit Kopftuch. Wenn sie Glück haben, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Selbst wenn ihre Leistungen den Erwartungen voll entsprechen oder sie sogar übertreffen, werden sie mit dem Hinweis „Ja, wenn sie Ihr Kopftuch absetzen würden, ...“ abgelehnt. In einem Betrieb mit Kundenkontakt heisst es dann außerdem noch: „Das können wir unserer Kundschaft nicht zumuten.“
Andererseits ist es allerdings sehr gut möglich, dass von der Kundschaft mit Kopftuch das Geld für eine gekaufte Ware oder einen geleisteten Dienst genommen wird. Was wäre, wenn die Kopftuch-Kundschaft verlangen würde, von Kopftuch-Beschäftigten bedient zu werden, wie zum Teil im umgekehrten Fall?
Kann man von einer Frau verlangen, dass sie ihr Kopftuch auszieht, damit sie eine Arbeitsstelle bekommt? Ist dies nicht eine Nötigung zu einer Handlung, die nicht mit der freien Entscheidung der Person übereinstimmt? Eine Frau mit Kopftuch, die darauf angewiesen ist zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird durch die Drohung „So kann ich sie nicht einstellen!“ und der damit verbundenen Folge der finanziellen Not veranlasst, etwas zu unterlassen, nämlich das Tragen des Kopftuchs. Eine solche Nötigung kann nach § 240 StGB mit einer Freiheits- oder Geldstrafe geahndet werden. Wie viele Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen machen sich demnach in Deutschland strafbar?
Und ist es nicht auch „sittenwidrig“, von einer Frau das Abnehmen des Kopftuchs zu verlangen, wenn dieses Verhalten (das Tragen des Kopftuchs) „aufgrund langer Gewohnheit befolgt wird“ (Brockhaus)? Wenn das Anstandsgefühl (Anstand = von einer best. Gesellschaft als gutes Benehmen bewertetes Verhalten) verletzt wird, kann dieses als ein Verstoß gegen die „guten Sitten“ gesehen und nach § 138 BGB bestraft werden.
Aber wen interessieren heute schon noch „gute Sitten“ und „Anstand“? Wenn es als schick gilt, sich als von der Norm abweichend zu outen, kann nicht erwartet werden, dass ein Mehr an Kleidung öffentliche Zustimmung findet.
Dabei ist es ein Skandal, was Kopftuchträgerinnen alles passiert :
- Eine Frau an der Kasse eines Supermarktes, die das „Glück“ eines verständnisvollen Chefs hatte, musste sich in eine andere Filiale versetzen lassen, weil sich Kunden nicht von der „Mumie“ bedienen lassen wollten.
- Eine Kindergärtnerin, die ebenfalls das „Glück“ hatte, die Eltern der betreuten Kinder hinter sich zu haben, wurde vom Bürgermeister suspendiert (städt. Kindergarten).
- Frauen wird nachgesagt, sie trügen Kopftuch, weil sie darunter eine Glatze hätten.
- Sie sollen wieder dahin gehen, woher sie gekommen sind. Wohin sollen deutsche Musliminnen (deutscher Vater, deutsche Mutter) gehen?
- Eine konvertierte deutsche Muslima stand bei einem Bäcker und wartete, bis sie dran war. Ein Mann hinter ihr drängte sich vor. Auf ihre Aussage hin, dass sie jetzt an der Reihe sei, antwortete er ihr, dass er aber Deutscher sei.
Um was geht es hier eigentlich? Sind die rechtlichen Grundlagen in Deutschland so, dass bestimmte Menschengruppen benachteiligt werden dürfen? Nein. Ganz klar nein. Kein Mensch darf wegen seiner Lebensweise oder seiner Ansichten, wenn er nicht der Allgemeinheit Schaden zufügt, benachteiligt werden. Das deutsche Grundgesetz regelt diesen Sachverhalt ganz deutlich. Auch die Religionsfreiheit ist im Grundgesetz gewährleistet. Ausserdem hat jeder und jede Deutsche den gleichen Zugang zu einem öffentlichen Amt, jeder Bürger und jede Bürgerin in Deutschland Zugang zu einer Arbeitsstelle, wenn die Befähigung vorliegt, unabhängig vom religiösen Bekenntnis.
Stören Kopftuch und lange Ärmel den inneren Frieden und die innere Sicherheit Deutschlands? Scheinbar ja. Es sieht so aus, als ob ein großer Teil der Bevölkerung Deutschlands keine Gefährdung von Frieden und Sicherheit darin sehen, wenn Frauen modisch freizügig durch die Fußgängerzone spazieren („Ein appetitlicher Anblick“ -?-) oder an der Kasse des Supermarktes stehen. Hier gilt der Wahlspruch „Jeder kann machen, was er will“ und „Wer eine gute Figur hat, kann doch zeigen, was er hat“.
Aber die hübsche, junge Frau mit dem langen Rock, der langärmligen Bluse und dem farblich abgestimmten Kopftuch hört im harmlosesten Fall „Das arme Mädchen!“. Körperliche Attraktivität hat nicht züchtig verhüllt zu werden. Es ist Tatsache, dass diese junge Frau eine Arbeitsstelle mit Publikumsverkehr (Verkauf, Beratung, ...) trotz sehr guter Leistung und Eignung nicht bekommt – es sei denn, sie würde ihr Kopftuch ablegen. Die attraktive junge Frau im modisch-körperbetonten Outfit würde, selbst bei geringerer Eignung, die Arbeit bekommen. Wo bleibt da der Mut eines Personalchefs? Wo ist seine Zivilcourage? Wieso glaubt er, dass es durch das Kopftuch „zu betrieblichen Störungen bei der Arbeit kommt“? Wieso sollten plötzlich weniger Kunden diesen Betrieb aufsuchen?
Seit dem 21. August 2003 gilt in Deutschland das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe (Az.: 1 BvR 792/03), dass das Tragen eines Kopftuches aus religiösen Gründen kein alleiniger Entlassungsgrund ist. Eine Kündigung ist demnach nur gerechtfertigt, wenn diese auf Grund plausibler und nachvollziehbarer Erwägungen durch „personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe bedingt“ sei und nicht auf einen möglichen Verdacht („Jetzt kommen bestimmt weniger Kunden.“) hin.
Wird sich dadurch viel ändern für die jungen muslimischen Mädchen, die fleissig in der Schule lernen oder sogar an der Universität studieren? Die mit ihrem Beispiel das Vorurteil, dass Frauen mit Kopftuch ungebildet und dumm seien, widerlegen möchten? Die zeigen wollen, dass sie nicht das Dummchen sind, das nur brav darauf wartet, geheiratet zu werden, wie die westliche Bevölkerung immer glaubt? Werden diese Mädchen die Gelegenheit bekommen, zu beweisen, dass sie selbstbewusste und selbstbestimmte Frauen sind, die sich durchaus ihren eigenen Kopf für die Planung ihrer Zukunft anstrengen?
Werden die vielen muslimischen Frauen, die schon Ehefrau und Mutter sind und gerne nebenbei arbeiten möchten, auch andere Arbeitsstellen bekommen als Putzstellen?
Die Angst vor dem Kopftuch zieht sich durch alle Bereiche der Republik:
In der Nachbarschaft: Wer weiß, ob nicht der muslimische Familienvater seine Frau und seine Töchter unter das Kopftuch zwingt!
Im Sportunterricht: Warum will die kopftuchtragende Schülerin nicht am koedukativen (gemischten) Schwimmunterricht teilnehmen?
In der freien Berufswelt: Wie soll eine Kopftuchträgerin in der Konfektionsabteilung Kundinnen beraten oder gar im Friseursalon modisch frisieren? Das ist sicher geschäftsschädigend! – Außerdem ist es sicher unhygienisch, wenn eine Krankenschwester mit Kopftuch statt mit Haube den Blutdruck misst!
In der öffentlichen Schule: Wird nicht die kopftuchtragende Lehrerin die muslimischen Eltern dahingehend beeinflussen, ihre Töchter unter das Kopftuch zu zwingen? Und wird sie nicht sogar die übrigen Schüler dahingehend beeinflussen, sich positiv mit dem Islam auseinander zu setzen und vielleicht zu konvertieren?
Interessant wäre, wenn sich eine deutsche Frau aus dem religiösen Umfeld der Hutterer, der Mennoniten oder der Amischen, von denen ja bekannt ist, dass die Kleiderregeln für Frauen lange Kleidern und eine Haube vorsehen, um eine Stelle in der freien Wirtschaft oder gar im öffentlichen Schuldienst bewerben würde. - Oder wenn sich ein Sikh mit deutschem Pass und erfolgreich abgeschlossenem Lehramtsstudium im Schuldienst bewerben würde. Ein Sikh trägt immer einen Turban. Würde der ihm als mögliche Missionierung ausgelegt? Wahrscheinlich nicht. Denn der Sikh Ranjit Singh aus Hamburg darf sogar mit seinem Turban und ohne Helm Motorrad fahren. Nach diversen Anfragen mit anwaltlichem Beistand bekam er von den örtlichen Behörden eine Fahrerlaubnis. Nach einem Beschluss des Bund-Länderausschusses für Straßenverkehr aus dem Jahr 1986 können Sikhs aus religiösen Gründen von der Helmpflicht befreit werden. – Würde bei deutschen Hindus die farbige Stirnmarkierung ein Hindernis für den Schuldienst darstellen? – Oder die ungeschnittenen Rastalocken eines Bewerbers? – Oder die Kippa eines jüdischen Lehrers? Nein, denn der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bremerhavens unterrichtet an einer staatlichen Schule mit Kippa und der Landesrabbiner von Niedersachsen hat eine Professur in Bremen.
Warum also die Panik in deutschen Landen vor dem Kopftuch? Wo bleibt da das Prinzip der Gerechtigkeit? Kann der Kopftuch tragenden Lehrerin angelastet werden, dass in vielen Köpfen verquere Vorstellungen über die Lebensweisen in islamischen Ländern herrschen? Kann man sie für die Missstände in fremden Ländern verantwortlich machen? Geht es bei dieser Problematik nicht eigentlich nur um die Abwehr einer bestimmten Religion oder „fremden Kultur“?
Im Grunde handelt es sich bei Reaktionen der Ablehnung gegenüber einer Kopftuch tragenden Lehrerin oder Verkäuferin um den Ausdruck subtiler Ängste und unbelegter Annahmen bzw. Unterstellungen: die nichtmuslimischen Schüler und Schülerinnen könnten religiös beeinflusst werden (im Kaufhaus könnte die Kundschaft weg bleiben). Ob es aber wirklich zu „betrieblichen Störungen“ in der Schule kommen würde, bleibt abzuwarten. Deshalb muss so lange gelten „in dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten“) bis sich die Annahme bestätigt hat.
Der Frieden und die Sicherheit stehen in einem pluralistischen Staat immer auf dem Prüfstand. Das Bemühen darum muss täglich neu geführt werden. Ein Kopftuch bei einer Lehrerin als Ausdruck des individuellen Glaubens darf einen solchen Staat nicht aus den Fugen werfen.
„Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis und lässt sich nie und nimmer sichern.“ (Dietrich Bonhoeffer, 28.8.1934)Maryam Brigitte Weiß, Frauenbeauftragte des ZMD/Sommer 2003