12. Kapitel
Karin war aufgeregt, ja geradezu wütend. In den frühen Morgenstunden hatte sie zwei Leichen zur Obduktion bekommen, die sehr interessant zu sein schienen. Die eine, eine Frau in den Dreißigern, vermutlich Prostituierte, hatte nach der ersten oberflächlichen Untersuchung einen äußerst merkwürdigen Wurmbefall. Kleine weiße Maden fand Karin in allen Körperöffnungen, sowie in der eitrigen Wunde, welche die Frau im Bauch hatte. Die andere Leiche, ein älterer Mann, war völlig blutleer.
Karin hatte gerade ein paar Proben ins Labor gegeben, da war Doktor Böhmer, der Leiter der Pathologie im St. Georgsstift, zu ihr gekommen und hatte mitgeteilt, der Fall müsse fallen gelassen werden. Eine tiefgreifendere Erklärung gab es nicht. Stinksauer, ja das beschrieb ihre momentane Stimmung recht gut.
Sie war erst vor zwei Jahren von der Uni gekommen. Man hatte sich geradezu um sie gerissen. Sie war die beste Absolventin ihres Jahrgangs gewesen. Die Pathologie sah Karin seit Jahren als ihre Berufung. Sie wollte die Wahrheit ans Licht bringen, aber statt dessen hatte sie seit sie im St. Georgsstift war bestätigt, das irgendwelche Junkies an Drogenüberdosierung gestorben waren.
Heute hatte sie ihren ersten interessanten Fall, und der sollte eingestellt werden. Nie im Leben wollte sie sich diesen Anweisungen fügen, aber Doktor Böhmer hatte ihr deutlich gemacht, mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatte, wenn sie sich seinen Anordnungen widersetzte.
„Nichts zu machen,“ sagte Hannes, der Laborassistent, „Du hast doch gehört, was Doktor Böhmer gesagt hat.“
„Ich möchte doch nur die Auswertungen von diesen paar Proben. Das muß der aufgeblasene Affenarsch von Chef ja gar nicht mitkriegen,“ beharrte Karin.
„Kann ja sein, das dir dein Job egal ist, aber meiner ist mir nicht egal.
Ich würde Dir ja gerne helfen, aber mir sind die Hände gebunden,“ blockte Hannes ihre Einwände ab.
„Findest Du das normal, so einen bemerkenswerten Fall einfach unter den Tisch fallen zu lassen?“ fragte Karin, aber Hannes schien das alles nicht zu interessieren.
Sie wußte was er wollte. Er hatte sie bereits mehrmals gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde, aber sie hatte kein Interesse an Ihm.
„Und wenn wir beide am Sonntag ins Kino gehen würden?“ startete Karin ihren letzten verzweifelten Versuch.
„Da ließe sich drüber reden,“ sagte Hannes, der dieser Verlockung nicht widerstehen konnte.
„Bis wann hast Du die Ergebnisse?“ fragte sie.
Sie hatte was sie wollte. Das hieß, wenn Hannes Wort hielt. Aber da machte sie sich keine Sorgen, denn er war eigentlich ein anständiger Kerl.
„Bis Morgen früh,“ sagte er leise, „Du bezahlst.“
Gegen drei Uhr am Nachmittag verließ Karin das St. Georgsstift. Sie trug eine einfache Jeans und eine dunkelbraune Lederjacke. Ihr Ziel war die S-Bahnstation. Von dort aus fuhr sie zum Berliner Tor. Die S-Bahn hielt. Sie stieg aus. Es war recht kühl und eine steife Brise wirbelte ihr Haar um ihren Kopf. Die Bahnstation war verdreckt. Am Ausgang Heidenkampsweg stand eine Gruppe jugendlicher Ausländer, die einen Joint kreisen ließen.
Karin hatte nichts gegen den Gebrauch leichter Drogen, fand es aber unangemessen, wenn Jugendliche am hellichten Tag in der Öffentlichkeit dieser Form der Unterhaltung nachgingen. Sie ging an dem Grüppchen vorbei, die Treppe zur Straße hinunter.
Sie ging den Heidenkampsweg entlang, bis rechts die Gotenstraße abging, die den Heidenkampsweg mit der Hammerbrookstraße verband.
Bald sah sie von weitem die Telefonzelle, an der die beiden Leichen gefunden wurden. Sie sah sich um. Die Spurensicherung war natürlich längst da gewesen, aber vielleicht hatten sie etwas übersehen. Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit war nicht unbedingt groß. Die Blutflecken auf dem Asphalt waren mit einem Streu abgedeckt worden. Viel mehr wies nicht auf die Vorkommnisse der vergangenen Nacht hin. Ein wenig enttäuscht ging Karin zum Berliner Tor zurück. Hoffentlich findet Hannes mehr raus, dachte Karin. Das könnte ihre große Errungenschaft sein, oder ihr großer Reinfall, aber sie wollte es darauf ankommen lassen.
Als Karin am nächsten Morgen zur Arbeit kam, sah sie einen Streifenwagen vor der Tür stehen. Das war nicht weiter verwunderlich, aber als sie das St. Georgsstift betrat kam ein Polizeibeamter mit einem Block auf sie zu und fragte:
„Sind Sie Karin Reuther?“
„Ja, wieso?“ antwortete Karin verunsichert.
Irgend etwas mußte geschehen sein.
„Ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen stellen, über Herrn Hannes Grohe.“
„Was ist mit Hannes?“ fragte sie mit zittriger Stimme.
Der Beamte wurde sehr ernst und sagte:
„Herr Grohe ist vor ein paar Stunden tot im Labor aufgefunden worden. Alles deutet auf ein Verbrechen hin.“
„Oh, mein Gott,“ brach es aus ihr heraus.
„Was ist passiert?“ wollte sie wissen.
„Das wollen wir ja herausfinden,“ sagte der Polizist, „Sie haben ihn doch besser gekannt. Wissen Sie vielleicht etwas, was uns weiter hilft? Hatte er irgendwelche Feinde?“
Karin war sprachlos. Sie wußte, das Hannes nicht unbedingt der höflichste und zuvorkommenste Mensch auf der Welt gewesen ist, aber deshalb wird doch niemand umgebracht.
Sie schüttelte den Kopf.
„Wissen Sie woran er gearbeitet hat?“ hakte der Beamte weiter nach.
Oh, mein Gott, dachte Karin, die Proben.
In dem Moment kam Doktor Böhmer hinzu.
„Frau Reuther, könnte ich Sie kurz sprechen?“ unterbrach er den Polizisten. Er faßte sie am Oberarm und sie entfernten sich von dem Beamten.
„Ist es möglich, das Sie entgegen meinen Anordnungen Herrn Reuther baten die Proben, die Sie den beiden umstrittenen Leichen abgenommen haben, zu untersuchen?“
„Ist das im Moment nicht völlig egal, ob ich Ihre Anweisungen befolgt habe oder nicht. Ein Mensch ist ermordet worden,“ brüllte Karin.
„Sehr richtig,“ sagte Doktor Böhmer leise, „aber es ist anzunehmen, das er wegen seiner Untersuchungen getötet wurde. Die Proben, die Sie ihm gegeben haben, sind das einzige was aus seinem Labor entwendet wurde. Begreifen Sie nicht, das ich nur versuche Sie zu schützen, vor dem, was Sie nicht verstehen würden.“
Er drehte sich um, ging den Flur entlang und verschwand am Ende des Ganges in seinem Büro.
Karin war ratlos. Was hatte Doktor Böhmer nur damit gemeint, was sie nicht verstehen würde.
13. Kapitel
Karin kam zurück in ihre Wohnung. Es war bereits spät am Abend. Der Mond schien zum Fenster herein. Sie hatte sich den Rest des Tages frei genommen, was kein größeres Problem darstellte, da sie mehr als genug Überstunden angesammelt hatte, und hatte ihre Eltern besucht. Das tat sie oft, wenn sie nicht so recht wußte, was sie tun sollte. Sie sprach zwar nicht mit ihren Eltern über persönliche Probleme, aber die Harmonie in ihrem Elternhaus gab ihr häufig die Ruhe, die sie brauchte.
Nicht am heutigen Tag. Die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden überschlugen sich in ihrem Kopf. Diese mysteriösen Leichen, die Untersuchungen waren unbegründet eingestellt worden, und dann wurde ihr Kollege Hannes ermordet im Labor aufgefunden. Die einzige Stellungnahme, die Doktor Böhmer, ihr Vorgesetzter, ihr gegenüber abgegeben hatte, war, das wohl irgend etwas vorging, das sie nicht verstehen würde.
Unsinn, dachte Karin, Bullenscheiße, die ziehen hier irgend ein Riesending ab. Die frage war bloß wer und was genau.
Sie zog ihre Lederjacke aus und ließ diese auf den Stuhl neben der Wohnungstür fallen. Dann ging sie ins Wohnzimmer und legte eine CD in die Stereoanlage. Mit einem volle Akkord begannen ‚Rage against the Mashine’ loszurocken. Karin drehte den Regler auf, ging dann ins Badezimmer und ließ sich ein Bad ein.
Während das Wasser fröhlich in die Wanne plätscherte zog Karin sich aus.
„Some of those that got forces“, dröhnte es aus den Lautsprechern, „are the same that burn crosses.“
Die Aggressivität der Musik spiegelte ihre Empörtheit perfekt wider.
Sie glitt ins Wasser. Es war sehr heiß, genau so wie sie es liebte. Mit einem Seufzer entspannte sie sich und ließ ihre Gedanken gleiten.
„You gotta take the power back“, krachte es aus den Boxen der Stereoanlage.
Armer Hannes, dachte sie nach einer Weile, das hatte er gewiß nicht verdient. Sie hatte ihn zwar nicht besonders gemocht, aber für ein paar Blut und Gewebeproben ermordet zu werden, fand sie grotesk.
Was ist nur los mit der Welt in der wir leben, dachte sie. Wohin sie sah, sah sie Korruption und Gewalt. Aber sie würde schon dahinter kommen, warum die Dinge liefen wie sie liefen, warum der arme Hannes sterben mußte. Das hatte sie sich geschworen.
Sie griff nach einer kleinen Flasche mit einem exotischen Duftöl, die auf dem Rand der Badewanne stand und ließ ein paar Tropfen des Öls ins Wasser tropfen. Es war eine sehr kostbare Essenz, die ihre Eltern ihr von einer Reise nach Japan mitgebracht hatten. Karin ging sehr sparsam mit diesem Duftöl um, und benutzte es eigentlich nur wenn sie sehr aufgewühlt war. Das letzte mal hatte sie das Öl benutzt, als sie sich von ihrem langjährigen Freund getrennt hatte. Aus irgend einem Grund konnte sie sich mit bestimmten Dingen einfach nicht abfinden.
Das heiße Wasser wirkte sehr beruhigend und die Dämpfe des Öls steigerten diese Wirkung noch. Sie tauchte einmal unter. Das Wasserölgemisch kribbelte angenehm auf ihrer Gesichtshaut. Als ihr die Luft auszugehen begann, tauchte sie wieder auf. Sie glaubte das Klingeln des Telefons durch die laute Musik hindurch zu hören.
„With a bullet in your head“, dröhnte es aus den Boxen.
Ja, das Telefon klingelte. Der Anrufbeantworter würde das Gespräch schon entgegennehmen. Nichts, was ihr jemand mitteilen wollte, konnte wichtig genug sein, um sie aus der Wanne springen zu lassen.
Eine sehr nützliche Erfindung, dachte Karin. Für gewöhnlich haßte sie diese Maschinen. Sie selbst sprach nur im äußersten Notfall Nachrichten auf das Band und hörte die Nachrichten anderer auch nur alle paar Tage ab...
Natürlich, dachte sie. Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie hatte den Anrufbeantworter seit Tagen nicht abgehört. Vielleicht enthielt das Band ja einen Hinweis, der ihr bisher entgangen war.
Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Das ihr das nicht eher eingefallen war.
Sie zog den Stöpsel aus dem Boden der Wanne, stand auf und griff nach dem Handtuch, das an dem Bügel über der Wanne hing. Dann trocknete sie sich notdürftig ab während ins sie Wohnzimmer ging. Von ihren Haaren fielen viele kleine Wassertropfen auf den Teppichboden in Flur und Wohnzimmer.
Karin warf das Handtuch auf einen Sessel und stellte die Stereoanlage ab.
Es waren sechs Nachrichten auf dem Band. Karin drückte den Startknopf.
„Hallo Karin,“ ertönte als erstes die Stimme ihrer Mutter, „komm doch am Sonntag abends zum Essen vorbei.“
Wie passend, das ich Sonntag nichts vorhabe, dachte Karin bitter und betätigte den Weiterknopf.
Der nächste Anrufer hatte einfach aufgelegt. Vermutlich jemand, der Karin besser kannte, und wußte, das sie nur selten Nachrichten abhörte.
„Schönen guten Tag Frau Reuther,“ begann der dritte Anruf, „Hier spricht Anne Koehler, Praxis Doktor Mersmann. Es wäre uns sehr recht, wenn es möglich wäre, Ihren Termin am kommenden Dienstag zu verschieben, da Herr Doktor Mersmann aus persönlichen Gründen am Dienstag nicht in der Praxis sein wird. Am besten Sie rufen bei Gelegenheit zur neuen Terminabsprache an. Herzlichen Dank, auf Wiederhören.“
Eine Standartuntersuchung zu verschieben schien Karin vertretbar zu sein.
„Hi, Karin, ich versuch´s später noch mal,“ lautete die vierte Nachricht, die von Ines, Karins bester Freundin, kam.
Dann ertönte Hannes Stimme aus dem Lautsprecher des Anrufbeantworters:
„Hallo Karin, hier ist Hannes. Ich fang jetzt schon mal an Deine Proben auszuwerten. Es ist sonst wenig zu tun, und ich muß eh Überstunden schieben. Dafür bin ich morgen nicht da. Ich leg dir die Ergebnisse in dein Fach. OK, bis dann. Ach Ja, ich finde wir gehen vor dem Kino noch was schönes Essen, ich lad‘ Dich ein.“
Strike, dachte Karin. Die sechste Nachricht war ebenfalls von Hannes:
„Hallo, ich bin’s noch mal. War ein echter Volltreffer. Das solltest Du dir echt ansehen. Ich hab die Ergebnisse in dein Fach gelegt, die Proben hab ich noch hier. Es hat ein paar Unstimmigkeiten bei der Untersuchung gegeben. Ich bin noch ne ganze Weile hier, am besten, du kommst gleich vorbei. Bis dann.“
Karin drückte auf „Nachrichten löschen“.
Dann wollen wir doch mal sehen, was wir da haben, dachte Karin, als sie sich so schnell es ging anzog. Sie war aufgeregt. Irgendwie genoß sie diese Anspannung. Zum ersten mal in ihrem Leben geschah etwas wirklich aufregendes.
Sie warf sich ihre Lederjacke über und griff nach ihrem Schlüsselbund, das auf der Anrichte neben dem Eingang lag, während sie aus der Wohnung stürmte, die Treppe hinunter, aus dem Haus und zur nächsten S-Bahnstation.
Sie bekam vor Aufregung eine Gänsehaut, als sie in die Bahn stieg. Die Zeit kroch nur so dahin, während Karin in der Bahn saß. Sie schien überhaupt nicht von der Stelle zu kommen. Tatsächlich waren es nur die üblichen zwanzig Minuten, welche die Bahn jeden Tag benötigte um Karin zur Arbeit zu bringen, aber diesmal platzte Karin gerade zu vor Ungeduld.
Endlich erreichte die Bahn die Haltestelle an der Reeperbahn, von wo aus Karin wie immer den restlichen Weg zu Fuß zurücklegte. Einige Minuten später betrat sie den St. Georgsstift.
Leise schlich Karin am Büro von Doktor Böhmer vorbei, der noch immer im St. Georgsstift war und nicht unbedingt mit bekommen mußte, das sie in die Klinik zurückgekommen war. Sie ging dann zielstrebig in den Pausenraum der Pathologie. In ihrem Fach lagen einige Papiere. Sie nahm sie heraus und setzte sich auf einen in der Ecke stehenden Stuhl, wo sie zu lesen begann.
Die Ergebnisse von Hannes Untersuchungen waren erstaunlich.
Er hatte mehrmals die Blutgruppe der Leiche mit dem Wurmbefall getestet und war jedesmal zu einem anderen Ergebnis gekommen.
Die Organproben dieser Leiche, die Karin entnommen hatte, waren laut Hannes Unterlagen, die einer Frau, die seit über fünf Jahren tot war. Und diese weißen Maden gehörten einer unbekannten Spezies an.
Diese Angaben könnten in der Öffentlichkeit eine Massenpanik auslösen. Die Proben, die Karin der anderen Leiche entnommen hatte, besagten, das der Mann völlig gesund gewesen sein mußte, abgesehen von der völligen unerklärlichen Blutarmut.
Sie ging die Unterlagen noch einmal durch. Es war verblüffend. Absolut unerklärlich, zumindest nach dem Wissensstand der modernen Medizin.
„Interessante Lektüre?“ fragte eine ihr unbekannte Stimme vom Eingang des Raumes.
Karin blickte auf. In der Tür stand ein großer schlanker gutaussehender Mann mit wilden schwarzen Haaren. Er war etwa Mitte zwanzig und trug Motorradstiefel, eine schwarze Lederhose und ein ebenfalls schwarzes ärmelloses T-Shirt. Auf seinem linken Arm waren einige dornenartige Tribles tätowiert.
„Wer sind Sie?“ fragte Karin verwundert.
Ihr fiel auf, das der Mann extrem blaß war. Er kam auf sie zu, seine dunklen Augen nicht von ihr nehmend.
„Weißt Du eigentlich, das unter Deinem unscheinbaren Outfit eine wunderschöne Frau steckt?“ bemerkte er spitz.
Karin wußte nicht so recht, wie sie diese Bemerkung verstehen sollte. War es ein Kompliment oder ein Angriff auf ihren Modegeschmack? Und überhaupt, wer war dieser Mann, und woher wußte er wie sie unter ihrem Outfit aussah?
„Wer bist du?“ fragte sie erneut. Wenn er sie duzen konnte, konnte sie das auch. „Meine Freunde nennen mich Guevara,“ sagte er lächelnd und schloß die Tür zum Flur hinter sich.
Karin wurde unruhig, Ihre Nackenhaare stellten sich auf.
„Was willst Du von mir?“ platzte es aus ihr heraus.
„Keine Angst,“ beruhigte er sie, „ich will nur ungestört mit Dir reden.“
„Worüber?“ wollte Karin wissen.
„Erst mal wollen wir die rechte Atmosphäre schaffen,“ sagte Guevara, „setz Dich.“
Karin tat wie ihr geheißen. Hinter seinem Rücken holte Guevara einen sehr großen vierarmigen Kerzenleuchter hervor und stellte diesen auf den Tisch, mitten im Raum. Karin war verblüfft. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wo dieser Leuchter herkam.
Guevara ging zurück zum Eingang des Raumes und schaltete das Licht aus. Fast im selben Moment entzündeten sich die Kerzen des Leuchters. Erschreckt stieß Karin einen leisen Schrei aus. Guevara stand noch immer an der Wand.
„So ist es besser,“ sagte er trocken, kam auf den Tisch zu und nahm sich einen Stuhl.
„Wie hast Du das gemacht?“ fragte Karin, noch immer verblüfft.
„Berufsgeheimnis,“ erwiderte Guevara. Er setzte sich zu ihr und blickte ihr tief in die Augen.
„Was bist Du denn von Beruf,“ fragte Karin, „Zauberer oder so was?“ Er grinste.
„So was ähnliches,“ war seine Antwort, „am besten, wir kommen gleich zur Sache. Du hast ein paar Fragen über Dinge, die Du nicht verstehst.“
„Woher weißt Du das?“ unterbrach sie ihn, „und wehe Du sagst wieder Berufsgeheimnis.“
Irgendwie hatte sie den Eindruck, diesen Mann schon lange zu kennen. Er lächelte. Karin konnte den Mann nicht einordnen.
„Wir haben zur Zeit ein Problem,“ überging Guevara ihre letzte Frage, „viele von uns sind gestorben und wir haben selber keine Erklärung dafür.“
„Wer ist Wir?“ Karin wußte nicht im geringsten, wovon Guevara sprach. „Eure negativen Gegenstücke,“ antwortete er.
„Gegenstücke?“ Sie sah Guevara ungläubig an.
„Du hast doch sicher mal die Bibel gelesen?“
„Sicher,“ log Karin.
Natürlich hatte sie im Laufe ihrer Schulzeit hier und da mal eine aufgeschlagen, aber sie interessierte sich nicht besonders dafür.
„Dann erinnerst Du Dich bestimmt an diesen Text mit Gott erschuf die Erde in sieben Tagen. Nun es erstaunt Dich sicher, dass einer von uns diesen Text verfasst,“ erklärte Guevara, „frei aus dem Geiste heraus. Man könnte auch sagen, er hat es sich aus.“
„Wer hat sich was warum ausgedacht?“ wollte Karin wissen.
Guevara wartete kurz, ehe er antwortete: „Die Sterblichen, Menschen, wie Ihr Euch nennt, haben sehr lange Zeit an das geglaubt, was in diesem Buch steht, und viele tun es heute noch“
„Bist Du jetzt hier, mit all dem Firlefanz, den Du hier abziehst um mir zu erzählen, dass es Gott nicht gibt?“ fragte Karin.
Ihre Stimme klang leicht verärgert.
„Das wusste ich auch worher schon.“
„Du wusstest das,“ fuhr Guevara sie an, „ich hätte gewettet, dass du es geglaubt hast, oder hast Du je einen Beweis gesehen?“
„Na toll, dann weiß ich ja jetzt, dass es Gott nicht gibt oder gab, aber das hilft mir auch nicht weiter,“ sagte sie zynisch.
„Seit jeher, gibt es diese Welt so wie sie ist. Nur, dass sich alles entwickelt. Die Menschen entwickeln sich weiter, werden stärker, klüger, besser. Und Wir sind das Negativ dazu. Wir sind unsterblich, jedenfalls beinahe, aber wir sind einer negativen Entwicklung unterworfen. So wie Ihr geboren werdet um zu leben, müssen wir sterben um zu existieren.“
Hier stockte Guevara kurz.
„Was willst du mir jetzt erzählen, was seid Ihr,“ fragte sie, „ich kann dir nicht ganz folgen. Und ehrlichgesagt, verliere ich langsam die Lust dazu.“
„Ihr Menschen würdet uns Vampire nennen,“ erwiderte Guevara.
„Vampire,“ Karin nickte ironisch, „ich hab ja schon ne Menge Blödsinn gehört, aber das ist die Höhe.“
Guevara schüttelte den Kopf.
„Warum können die Menschen heute nichts mehr glauben, ohne das es im Brockhaus steht?“ fragte Guevara rhetorisch, „Du willst Beweise, die kannst Du haben.“
Er stand auf, nahm ihr Handgelenk, führte es an seinen Mund, entblößte für den Bruchteil einer Sekunde seine Fänge und senkte sie dann in ihre Pulsader.
Karin stöhnte auf. Es war ein merkwürdiges Gefühl, zwischen Schmerz und alles verschlingender Lust. Sie spürte, wie ihr Blut in seinen Mund lief. Sein Blick hielt währenddessen den ihren wie gebannt fest. Es war als wäre sie völlig paralysiert. Der Schmerz ließ nach, die Lust verstärkte sich. Sie leckte sich über die Lippen. Ihr gesamter Oberkörper wankte hin und her. In ihrer Brust begann ihr Herz zu rasen. Sie spürte ein Verlangen, sich ihm völlig hinzugeben. Ihre Hand wanderte zum obersten Knopf ihrer Bluse und öffnete ihn. Guevara ließ von ihr ab. Sie sah wie ein kleines Rinnsal ihres Blutes sein Kinn hinab lief. Ihr Handgelenk wies zwei winzige Wundmale wie zwei Nadelstiche auf.
„Dein Mund steht offen,“ bemerkte Guevara trocken.
Als sie sich wieder gefangen hatte fragte sie:
„Wieviele von euch gibt es?“
„Hier in der Stadt leben etwa siebzig,“ beantwortete er ihre Frage, dann sagte er: „Gib mir Deine Hand, ich will die Wunde entfernen.“
Sie gehorchte. Wieder führte er ihre Hand an seinen Mund. Sie zitterte. Dieses mal leckte er allerdings nur einmal kurz über die Stelle und ließ ihre Hand dann wieder los. Sie zog die Hand zurück. Die Wunde war verschwunden. Karin konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihr gesamtes Weltbild geriet ins Wanken.
„Das ist der Grund, warum die meisten Menschen nicht wissen, dass es uns gibt,“ sagte Guevara.
Karin legte sich die Hand auf die Stirn.
„Wenn Ihr so viele seid, wie kann es sein, das niemand von Eurer Existenz weiß? Ich meine das liegt doch nicht nur daran, dass ihr keine Wunden hinterlasst“ hakte sie nach, nachdem sie kurz überlegt hatte.
„Wir leben in einer strengen Hierarchie,“ begann er, „mit sehr strengen Gesetzen. Das Oberste von diesen Gesetzen besagt, das kein Mensch je von unserem Dasein erfahren darf. Bricht jemand dieses Gesetz, so wird er vernichtet. Außer natürlich er kann seine Spuren verwischen.“
„Vernichtet,“ wiederholte Karin, „So wie in den Filmen, mit Holzpflock durchs Herz?“
„Zum Beispiel,“ sagte er, „oder auch durch Feuer, Sonnenlicht und Enthaupten kann man uns vernichten.“
„Warum erzählst Du mir das alles,“ fragte sie berechtigt, „ich denke das verstößt gegen euer höchstes Gesetz?“ Guevara grinste.
Karin bekam Angst. Nach dem, was er ihr erzählt hatte, würde er sie nun entweder töten oder zu Seinesgleichen machen, wie immer das ging. Ein einfacher Biß schien nicht auszureichen.
„Du mußt keine Angst haben,“ sagte er, „ich werde Dich weder töten, noch zu Meinesgleichen machen.“
Sie stutzte. Er schien ihre Gedanken zu lesen. Wie war das möglich?
„Natürlich lese ich Deine Gedanken,“ sagte er.
Karin war empört. Ihre Gedanken zu lesen ging ihr entschieden zu weit in ihre Privatsphäre.
„Laß das!“ sagte sie herrisch und mußte plötzlich lächeln über die ganze Situation.
„Ich brauche Dich um unser Problem zu lösen,“ fuhr Guevara dann fort, „wie gesagt, viele von uns sind bereits gestorben, und wir wissen nicht warum oder wie.“
„Wer hat Hannes getötet?“ fragte sie gegen.
„Derjenige unter dessen Einfluß dein Chef, der übrigens sehr große Stücke auf dich hält, steht,“ sagte Guevara.
Das reichte Karin nicht aus.
„Ich will Namen hören,“ sagte sie.
„Pervill,“ antwortete Guevara, „hilft Dir das weiter?“
Sie wandte kurz den Blick ab.
„Wer ist dieser Pervill?“ hakte sie dann weiter nach.
Er antwortete:
„Er ist das Oberhaupt meines Ordens.“
Mit diesem Begriff konnte sie nicht viel anfangen. Sie fragte nach.
„Also,“ begann Guevara, „ähnlich wie es bei Euch verschiedene Gesellschaften gibt, gibt es die auch bei uns. Einige von diesen bekämpfen einander um ihre eigene Macht zu vergrößern.“
Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: „Pervill ist der Älteste Vampir in der Stadt. Und er gehört wie ich einem geheimen Orden an.“
„Wie alt ist er denn?“ wollte Karin wissen.
„Etwa achthundert Jahre, zumindest nimmt man das an.“
Sie hob eine Hand und machte eine zurückweisende Geste.
„Ich glaube, ich will gar nicht noch mehr wissen.“
„Kommen wir also zu meiner Bitte an dich. Ich werde dir sagen, wo man die Leichen hingebracht hat, und du sollst sie dort untersuchen. Tagsüber, das ist besonders wichtig. Dann gibst du mir die Ergebnisse.“
„Warum sollte ich das tun?“ fragte sie.
„Weil du es selber willst. Du willst doch die Wahrheit ans Licht bringen. Es wird dich beruflich weiter bringen, dafür kann ich sorgen. Und du lieferst dadurch den Mörder Deines Freundes ans Messer, das heißt du hilfst mir dabei.“
„Hannes war nicht mein Freund,“ stellte sie vehement richtig, woraufhin er aufstand und sagte:
„Du hast also kein Interesse.“ Er schickte sich an zu gehen.
„Ich mach’s,“ rief sie.
Er drehte sich um.
„Gut,“ sagte er ruhig, „das Gebäude, in dem die Leichen aufbewahrt werden ist in Eppendorf und sehr gut bewacht. Du kannst aber die Sicherheitssysteme und die Wachen umgehen, indem Du eine Verbindung zwischen den Kellern des Gebäudes und der Kanalisation benutzt. Ich schicke dir morgen die Adresse und einen Grundriß vom Gebäude.“
„OK,“ sagte sie.
Er trat an sie heran und küßte sie. Sie erwiderte den Kuß und er biß ihr in die Zunge. Gierig trank er noch ein wenig ihres Blutes, während sie lustvoll zuckte.
„Auf gute Zusammenarbeit,“ sagte er noch, bevor er ging.
Sie schaltete das Licht wieder ein. Ihr Blick fiel auf den Tisch, der mitten im Raum stand. Der Kerzenleuchter war verschwunden, ebenso wie die Unterlagen, die Hannes ihr hinterlegt hatte. Der einzige Beweis für den Besuch Guevaras war ein winziger Blutfleck auf dem Ärmel ihrer Bluse.
Karin setzte sich wieder auf den Stuhl, auf dem sie die ganze Zeit gesessen hatte. Sie dachte nach, über das was geschehen war. Dieser Fall schien noch einige Überraschungen zu beinhalten. Das war sicher. Ihre Gedanken kreißten alle um ein Thema, die Wahrheit. Karin würde sie erfahren, die ganze Wahrheit. Es würde sicherlich sehr gefährlich werden, aber die Wahrheit war jedes Risiko wert. Und dann war da noch dieser mysteriöse Fremde. Dieser Vampir, der Blut getrunken hatte. Irgend etwas hatte er an sich, dachte Karin. Sie machte sich auf den Heimweg. Sie war sehr aufgeregt. Die Wahrheit, endlich die Wahrheit!