Unendlichkeit - ihre Rätsel und Lösungsversuche

streicher

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Im Chat haben wir über Rätsel gesprochen, die die Unendlichkeit so mit sich bringt. Die Fragen sind so spannend, dass ich denke, dass sie im Forum einen guten Platz hätten. Die erste Frage gebe ich mal leicht verändert im Wortlaut wieder:

Alle ganzen Zahlen von 1 bis 10 werden auf eine Tafel geschrieben ("Zahlenreihe 1") und darunter wird eine zweite Zahlenreihe geschrieben, in der jeweils alle Zahlen aus Zahlenreihe 1 sind, jedoch durch 2 teilbar, dann sind in "Zahlenreihe 2" halb so viele Elemente wie in Zahlenreihe 1. Angenommen die Tafel ist unendlich lang und die beiden Zahlenreihen werden unendlich lang fortgesetzt: wären dann die Anzahl der Elemente von Z2 trotzdem nur halb so groß wie in Z1?

Die zweite Frage lautet:

Gibt es unterschiedlich große Unendlichkeiten?

Wir hatten schon Antworten, mit denen ich aber nicht gleich herausplatzen will. Vielleicht habt ja ihr, werte Leser, noch andere Ansätze und Gedanken dazu oder kommt zu den gleichen Schlüssen... Also, die Fragen warten auf Antworten. :)
 

Giacomo_S

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streicher schrieb:
Alle ganzen Zahlen von 1 bis 10 werden auf eine Tafel geschrieben ("Zahlenreihe 1") und darunter wird eine zweite Zahlenreihe geschrieben, in der jeweils alle Zahlen aus Zahlenreihe 1 sind, jedoch durch 2 teilbar, dann sind in "Zahlenreihe 2" halb so viele Elemente wie in Zahlenreihe 1. Angenommen die Tafel ist unendlich lang und die beiden Zahlenreihen werden unendlich lang fortgesetzt: wären dann die Anzahl der Elemente von Z2 trotzdem nur halb so groß wie in Z1?

Nein. Beide Mengen sind gleich mächtig.

streicher schrieb:
Gibt es unterschiedlich große Unendlichkeiten?

Ja, aber die beiden o.g. Mengen sind dafür die falschen Beispiele.

Entscheidend ist, ob die Mengen abzählbar sind oder nicht. Die o.g. Mengen sind gleich mächtig und, unendliche Zeit vorausgesetzt, abzählbar.

Der deutsche Mathematiker GEORG CANTOR (1845-1918) konnte durch sein erstes Diagonalargument zeigen, dass die Menge der Rationalen Zahlen abzählbar sind.
Des weiteren zeigte er, dass die Menge der Reellen Zahlen nicht abzählbar ist (überabzählbar).

Nimmt man die Menge der Rationalen Zahlen als Aleph(0), so gilt für die Menge der Reellen Zahlen Aleph(1)=2^Aleph(0).
Die von CANTOR daraus angenommene Kontinuums-Hypothese stellt sich der Frage ob die Mengen mit

c=Aleph(0), Aleph(1), Aleph(2) ...

endlos so weiter gehen, oder nicht.
CANTOR selbst hat über den beweis dieser Frage den Verstand verloren. Kurt Gödel (selbst auch so ein Fall) konnte zeigen, dass die Annahme der Richtigkeit der Kontinuumshypothese nicht gegen die Richtigkeit der Mathematik verstoßen.
In den 60ern konnte jedoch gezeigt werden, dass auch ihr Gegenteil nicht gegen die Richtigkeit der Mathematik verstößt.

Man interpretiert das dahin, dass die Kontinuumshypothese mit unserer Mathematik nicht beweisbar ist. Das mag jetzt nun wie eine intellektuelle Petitesse wirken, hat aber einen zündenden Hintergrund:
Somit ist, streng genommen, der seit Anbeginn der Geschichte der Mathematik benutzte "Beweis durch das ausgeschlossene Dritte" im Prinzip ungültig.
 

Semiramis

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Da muss ich dann auch noch einmal nachfragen.
Wenn eine Menge unendlich ist, heißt das, sie ist offen und in ihrem Gesamtumfang nie zu fassen - und von daher auch nicht mit einer anderen Menge zu vergleichen. So gelten Relationen wie "die eine Menge ist halb so groß wie die andere" erstmal nur zwischen geschlossenen, und damit beurtheilbaren Mengen. Natürliche Zahlen und grade, ganzzahlige Zahlen aus dem ersten Beispiel sind beides unendliche Mengen, ein größer/kleiner gibt es da nicht. Ich dachte, das liegt daran, dass es sozusagen linear unendliche Mengen sind - das, was Du mit dem "abzählbar" meinst, würde ich sagen.
Reelle Zahlen sind ja demgegenüber auch eine logische Angelegenheit: Damit hat man ja relativ von Außen die große Gesamtheit einfach aller reellen Zahlen bezeichnet, die innerhalb aber gar nicht (?) strukturiert werden können - in dem Sinne in keiner Weise linear unendlich, oder abzählbar sind.
Rationale Zahlen sind auch "in verschiedene Richtungen hin ins Unendliche offen", dachte ich: bereits alle Brüche zwischen 0 und 1 gehen ins Unendliche - aber darüber, dass das auch Brüche sind, die so schön strukturiert linear abzählbar sind wie in dem Diagonaldiagrammm erscheint es plausibel, in ihnen keine überabzählbare Menge zu sehen, obwohl das Diagramm zunächst auch in mehrere Richtungen ins Unendliche offen ist...

Wo ist da jetzt das Problem mit der Kontinuumshypothese in Bezug auf die "Richtigkeit" der Mathematik?
Abgesehen davon, dass diese Mathematik ohnehin zu einem guten Teil auf einigen Grundannahmen - wie das Zahlensystem selbst bereits und seine Dezimalausrichtung oder solche Annahmen, was eine Division durch 0 sein soll etc - beruht, und dadurch ohnehin ein komplexes, aber imho eher philosophisches Gebäude ist ... Es gibt doch immer mal wieder neue Prämissen, die selbst nicht beweisbar sind, aber mit denen dann übergeordnete Zusammenhänge im großen Konstrukt der Mathematik bewiesen werden können: Solange sie nicht im Widerspruch stehen zu bisherigen Annahmen stellt diese Erweiterung in der Regel kein Problem dar.
 

Giacomo_S

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Semiramis schrieb:
Wo ist da jetzt das Problem mit der Kontinuumshypothese in Bezug auf die "Richtigkeit" der Mathematik?

Die Kontinuumshypothese - respektive die Versuche, sie zu beweisen oder zu widerlegen - verstösst gegen ein langüberliefertes logisches Grundprinzip, dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten.

Nach der grundlegenden, mathematischen Logik kann es nur zwei Zustände geben: wahr oder falsch. Mathematische Beweise kann man auf zwei grundlegende Arten führen: Beim direkten (konstruktiven) Beweis stelle ich fest, eine Aussage ist wahr. Beim indirekten Beweis nehme ich eine Aussage an, und versuche sie zu beweisen. Führt der Beweis zu einem Widerspruch, dann ist das Gegenteil der ursprünglichen Annahme richtig: Es kann keinen dritten Zustand geben.

Bereits vor 2.500 Jahren wurde so für die Diagonale des Quadrats bewiesen, dass sie keine rationale Länge haben könne, sondern irrational sein müsse. Konstruktiv lässt sich der Beweis nicht führen (meines Wissens). In der Methode nimmt man zunächst an, die Diagonale eines Quadrates sei durch zwei Teiler darstellbar. Die weitere Beweisführung führt dann zu nicht auflösbaren Widersprüchen: Ergo ist die Diagonale irrational.

Die Beweisführung der Kontinuumshypothese zeigt aber:
1. Die Kontinuumshypothese ist nicht zu widerlegen.
2. Die Kontinuumshypothese ist nicht zu beweisen.
Daher kann die Kontinuumshypothese im Rahmen der Standardaxiome der Mengenlehre weder bewiesen noch widerlegt werden.

Das bedeutet aber auch:
Die - seit über 2.500 Jahren gültige - indirekte Beweisführung ist im Prinzip unzulässig. Es kann, wenn auch bislang nur im Zusammenhang mit der Kontinuumshypothese, einen dritten Zustand zwischen wahr und falsch geben: unentscheidbar. Das rüttelt an den Grundfesten der Mathematik und der Logik.
 

streicher

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Giacomo_S schrieb:
Entscheidend ist, ob die Mengen abzählbar sind oder nicht. Die o.g. Mengen sind gleich mächtig und, unendliche Zeit vorausgesetzt, abzählbar.

Der deutsche Mathematiker GEORG CANTOR (1845-1918) konnte durch sein erstes Diagonalargument zeigen, dass die Menge der Rationalen Zahlen abzählbar sind.
Des weiteren zeigte er, dass die Menge der Reellen Zahlen nicht abzählbar ist (überabzählbar).
Die Abzählbarkeit gilt als das entscheidende Argument. In der Schulmathematik wird den Schülern beigebracht, dass die Zahlenmenge N in der Zahlenmenge Q enthalten ist. Im Mengenschaubild ist das eine Ellipse in der Ellipse (Z mal ausgelassen). Es prägt sich die Vorstellung ein, dass natürlich Q mehr Zahlen besitzt als N. In jedem Zwischenraum zweier natürlicher Zahlen können beliebig viele Zahlen liegen, wenn man nur die Intervalle verkleinert.
Steht damit die Vorstellung einer größeren Menge mit der der Vorstellung der gleichen Mächtigkeit im Konflikt?
Ist uns (ehemaligen) Schülern der Begriff der Mächtigkeit grundsätzlich nicht klar?
(Ein Mathematikstudent sagte mir mal, dass sein Professor in der Einführungsvorlesung den Hörern erstmal gesagt hat, sie sollen doch bitte alles, was sie bislang über die Mathematik gelernt haben, wieder vergessen)

Dazu eine Überlegung (unendliche Zeit vorausgesetzt):
Wir teilen die 1 durch die 9 und kennen eigentlich schon das Ergebnis: 0 Komma Periode 1. Jedoch schreiben wir die Zahl aus und zählen dabei gleichzeitig ihre Stellen. Während dieses Prozesses müssen wir natürlich beobachten, dass gleichzeitig als Ergebnis stets eine andere Zahl dort steht, die immer genauer wird, nie jedoch das endgültige Ergebnis darstellt. Tatsächlich würden wir aber auch diese Zahlen, die entstehen, abzählen.

Haben wir da nicht zwei verschiedene Wege vor Augen, die in die Unendlichkeit führen? Haben wir nicht unterschiedliche Unendlichkeiten vor uns? Könnten Unendlichkeiten daran unterschieden werden, wie in sie gelangt wird?
Mir scheint, als hätte man schon immer probiert, die Unendlichkeit in einen starren Kasten zu stecken. Geben wir der Unendlichkeit zu wenige Möglichkeiten?

_________
Anmerkung: Im Chat wurde Cantors erste Diagonalargument ebenfalls erwähnt.
 

Semiramis

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Verschiedene Wege, die in die Unendlichkeit führen... Wir reden ja imho auch von zwei zunächst mal getrennten Dingen: Unendlichkeit und Mächtigkeit...
Zur Unendlichkeit: Da wir als Menschen grundsätzlich von endlichen Räumen umgeben sind und auch nur endliche Zeitspannen überblicken und bei beidem jeweils kleinere und größere Räume / Zeitspannen zueinander in Relation setzen, ist Unendlichkeit für uns so schwer vorstellbar. Man neigt denn doch immer dazu, es wie eine (einfach nur ziemlich große Menge) zu behandeln und denkt dann wieder in Relationen... nur besitzt eine unendliche Menge gar keine endgültig festumreißbare Größe, von der aus man Relationen ableiten könnte - und so ist 1/2*Unendlich = 2*Unendlich = immer nur "Unendlich".
Die Sache mit der Mächtigkeit (z.B. verschiedener Zahlenmengen) stelle ich mir demgegenüber wie einen Zweidimensionalen Raum zu einem Mehrdimensionalen vor: Linear Unendliche Mengen ("abzählbar unendlich") vs. nicht-abzählbar, weil in mehreren Dimensionen ins UNendliche offen - dass diese Mengen dann tatsächlich größer ("mächtiger") sind als die "linear unendlichen" ist zum vorangegangen Gesagten über Unendlichkeit kein Widerspruch imho, sondern einfach ein zweiter Schritt...
Nachzuweisen, ob eine Menge, bei der es nicht eindeutig linear ist, einfach unendlich oder komplexer unendlich ist, stelle ich mir allerdings auch schwierig vor - Verstehe ich das richtig, Cantors Problem mit seinem eigenen Beweis: Er zeigt ja, dass die rationalen Zahlen Q linear abzählbar sind, auf die von ihm bezeichnete Weise - war das Problem die Frage, ob diese sehr künstlich hergestellte Linearität eine Art "Schummeln" war und evtl gar nicht die "mathematische Realität" abbildet? Müsste es da nicht noch andere Kriterien geben, anhand dessen man die Wertigkeit einer Unendlichen Menge bestimmen kann?

Nebenbemerkung:
Weil ihr das jetzt schon zweimal geschnitten habt: Streicher mit seinem 0,periode1 und beim Nachlesen vom Cantorschen Diagonalargument tauchte das sogar exxplizit auf: 0.periode9.
Das hat jetzt zwar nur indirekt mit Unendlichkeit zu tun, aber mich interessiert, ob es etwas Neues gibt zu diesem "Unschärfeproblem" in der Mathematik, oder ob ihr da andere Gedanken habt.
Bekanntlich entsteht das Problem ja dadurch, dass zwei Darstellungsarten von Zahlen, die beide in der Mathematik akzeptierte Arten sind, plötzlich zu einem Widerspruch führen: Da alle periodischen Dezimalbrüche als Brüche mit Teiler 9 darstellbar sind ( 0,periode3 = 3/9 z.B.) muss das auch für 0,periode9 gelten. 9/9 ist allerdings 1 (und daran lässt sich nicht rütteln). So ist für diese eine Zahl auf einmal eine Kurve, die sich eigentlich ins UNendliche hin immer näher an 1 anlehnt, sie aber nicht erreicht, gleich dem anvisierten Wert.
Ich sehe, wie das Problem entsteht, und frage mich trotzdem: 9/9 = 1 ist nicht zu ändern, aber bei der ersten Annahme: 0,periode9 = 9/9 - ist diese genauso unumstößlich? Gab es schon Versuche, das Probem aufzulösen? (Bezeichnenderweise werden 0,periode9 und 1 ja im Dualsystem durch zwei verschiedene Zahlen ausgedrückt...
 

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Semiramis schrieb:
Verstehe ich das richtig, Cantors Problem mit seinem eigenen Beweis: Er zeigt ja, dass die rationalen Zahlen Q linear abzählbar sind, auf die von ihm bezeichnete Weise - war das Problem die Frage, ob diese sehr künstlich hergestellte Linearität eine Art "Schummeln" war und evtl gar nicht die "mathematische Realität" abbildet? Müsste es da nicht noch andere Kriterien geben, anhand dessen man die Wertigkeit einer Unendlichen Menge bestimmen kann?
Über diese Art von "Linearität" seines Beweises habe ich auch gegrübelt. Selbst ganz Q wird mit den natürlichen Zahlen abgezählt. Dabei springen die Zahlen in Q vor und zurück. Die Abstände zwischen den Zahlen sind selbstverständlich unterschiedlich. Ich komme rein von der Vorstellung mit seinem Argument nicht richtig klar. :?

Bekanntlich entsteht das Problem ja dadurch, dass zwei Darstellungsarten von Zahlen, die beide in der Mathematik akzeptierte Arten sind, plötzlich zu einem Widerspruch führen: Da alle periodischen Dezimalbrüche als Brüche mit Teiler 9 darstellbar sind ( 0,periode3 = 3/9 z.B.) muss das auch für 0,periode9 gelten. 9/9 ist allerdings 1 (und daran lässt sich nicht rütteln). So ist für diese eine Zahl auf einmal eine Kurve, die sich eigentlich ins UNendliche hin immer näher an 1 anlehnt, sie aber nicht erreicht, gleich dem anvisierten Wert.
Einen Artikel habe ich dazu gefunden, der sich mit dieser Frage beschäftigt und recht spannend klingt...Ist die unendliche Periode 0,999... = 1 ?. Also dann... :read:
 

Trestone

Großmeister
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Hallo,

der Zusammenhang zwischen den Arten der Unendlichkeiten, die man findet
und den verwendeten Beweistechniken bzw. der verwendeten Logik
wurde ja schon angedeutet.
Insbesondere der Cantorsche Diagonalbeweis nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein.

Ich möchte hierzu weniger im Detail als grundsätzlich Stellung beziehen:

Mit der „Stufenlogik“(s.u.) habe ich eine Logik vorgeschlagen,
die gerade in den Grenzbereichen der Mathematik andere Ergebnisse liefert,
im endlichen Alltagsbereich aber weitgehend identisch mit der gewohnten Logik ist.
Insbesondere der Cantorsche Diagonalbeweis ist mit Stufenlogik nicht mehr gültig,
da unterschiedliche Stufen auftreten und so kein Widerspruch mehr erreicht wird.

So lässt sich mit Stufenlogik eine Mengenlehre konstruieren, die natürliche Zahlen kennt
und in der auch die Menge aller Mengen und die Russellsche Menge jeweils Mengen sind
und in der es nur eine Art von Unendlichkeit gibt:
Die abzählbare Unendlichkeit der Menge der natürlichen Zahlen.

Details zur Stufenlogik finden sich unter folgendem Link:
http://www.ask1.org/fortopic20575-0-asc-0.html

Ich will allerdings nicht unterschlagen, dass die Stufenlogik weitgehend eine Einzelkonstruktion,
in Teilen auch ziemlich sperrig und noch nicht gründlich überprüft ist.

Aber generell scheinen die Ausgangs- und Rahmenbedingungen festzulegen,
auf welche mathematische Objekte und Eigenschaften wir gerade in den Grenzbereichen treffen,
und das Bewusstsein dafür möchte ich mit diesem Beitrag stärken.

Gruß
Trestone
 

Giacomo_S

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streicher schrieb:
Einen Artikel habe ich dazu gefunden, der sich mit dieser Frage beschäftigt und recht spannend klingt...Ist die unendliche Periode 0,999... = 1 ?. Also dann... :read:

Kürzlich las ich in einem sehr lesenswerten Buch über CANTORs Mengenlehre einen Beweis für 0,9999... = 1, den ich Euch hier nicht vorenthalten möchte:

setzen wir zunächst einmal:

x = 0,999999 ... , dann multiplizieren wir beide Seiten der Gleichung mit 10 und erhalten:
10x = 9,99999 .... wir ziehen auf jeder Seite 1 x ab:
10x-x = 9,99999... - 0,99999... und erhalten:
9x = 9
x = 1
 

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Ehrenmitglied
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Mit dem Beweis beschäftigt sich Norbert Domeisen auch (Link zu dessen Artikel in meinem vorigen Post) und verwirft ihn:
Auch wenn dies auf den ersten Blick zweifelsfrei richtig erscheint, hält dieser Beweis einer kritischen Analyse nicht stand. Denn dabei wird stillschweigend oder ausdrücklich davon ausgegangen, es genüge für die Multiplikation mit 10, den Dezimalpunkt (bzw. das Komma) eine Stelle nach rechts zu schieben. Die Standard-Multiplikations-Regel für die Multiplikation mit 10 verlangt aber auch noch, rechts eine Null anzuhängen. Wird dies nicht getan und stattdessen eine andere Ziffer, beispielsweise eine Neun angehängt, führt dies zu einem Fehler.
Und der oben angeführte Beweis impliziert genau diesen Fehler und lässt sich folglich rekonstruieren als vollständige Induktion der Folge der falschen Aussagen 0,9=1, 0,99=1, 0,999=1.... ad infinitum.

Langsam frage ich mich, ob diese Unschärfe nicht ein Fleck ist, der zu unserem Dezimalsystem gehört...
 

Giacomo_S

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streicher schrieb:
Mit dem Beweis beschäftigt sich Norbert Domeisen auch (Link zu dessen Artikel in meinem vorigen Post) und verwirft ihn:
Auch wenn dies auf den ersten Blick zweifelsfrei richtig erscheint, hält dieser Beweis einer kritischen Analyse nicht stand. Denn dabei wird stillschweigend oder ausdrücklich davon ausgegangen, es genüge für die Multiplikation mit 10, den Dezimalpunkt (bzw. das Komma) eine Stelle nach rechts zu schieben. Die Standard-Multiplikations-Regel für die Multiplikation mit 10 verlangt aber auch noch, rechts eine Null anzuhängen. Wird dies nicht getan und stattdessen eine andere Ziffer, beispielsweise eine Neun angehängt, führt dies zu einem Fehler.
Und der oben angeführte Beweis impliziert genau diesen Fehler und lässt sich folglich rekonstruieren als vollständige Induktion der Folge der falschen Aussagen 0,9=1, 0,99=1, 0,999=1.... ad infinitum.

Langsam frage ich mich, ob diese Unschärfe nicht ein Fleck ist, der zu unserem Dezimalsystem gehört...

Dieses Argument überzeugt mich nicht. Demnach könnte man (dezimal zumindest) überhaupt keine periodische Zahl mit 10 multiplizieren, da es nie gelänge, eine Null anzuhängen. Außerdem kann man das Argument damit entkräften, dass ja eine Null angehängt werden könne, nur eben im Unendlichen.
Zumal es noch andere elementare Beweise gibt.
 

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So viele Beweise - das wirkt ja erdrückend...
Was die "0" angeht: Es ist mal wieder die typische Situation, dass eine Ziffer in einer unendlichen Warteposition ausharren muss, wie bei unserem Problem 0,Periode9 = 1. Unendlichkeit ist keine Zahl, sondern ein Prozess.

Na dann... :read:
 

Giacomo_S

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streicher schrieb:
So viele Beweise - das wirkt ja erdrückend...
Was die "0" angeht: Es ist mal wieder die typische Situation, dass eine Ziffer in einer unendlichen Warteposition ausharren muss, wie bei unserem Problem 0,Periode9 = 1. Unendlichkeit ist keine Zahl, sondern ein Prozess.

Na dann... :read:

Muss denn die Null überhaupt ausharren, angehängt werden ? Wieso? Weil Norbert Domeisen das postuliert?
Der Eine oder andere mag das Anhängen von Nullen bei der schriftlichen Dezimalmultiplikation noch in der Schule gelernt haben. Zu mir sagte ein Mathematiklehrer im Gymnasium jedoch einmal: "Aha, Du bist also noch ein 'Nuller'!" Denn er selbst verschob lediglich die Stellen und addierte.

Außerdem:
Für den Wert einer Zahl ist das Anhängen einer Null jenseits der rechtesten Stelle absolut bedeutungslos und somit auch die Null selbst:
1,2345 = 1,23450
Deshalb kürzt auch jeder Taschenrechner und jeder Computer solche Nullen, sofern nicht extra anders programmiert, gnadenlos weg.
Lediglich zur Angabe einer Stellengenauigkeit, z.B. bei Messwert-Tabellen werden rechte Nullen i.d.R. angegeben.
 

Giacomo_S

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Im Grunde läuft doch alles auf eine (zwar historische, dennoch ungeklärte) Frage hinaus:

Ist die Mathematik als solche immanent vorhanden, eine "Naturkraft" sozusagen - oder ist sie reines Menschenwerk? Gäbe es die Mathematik auch ohne den Menschen, oder nicht? Leopold Kronecker, Mathematiker, Lehrer und späterer Gegner Cantor sagte einmal: „Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk."

Nach den Grundbegriffen - was ist eine Zahl überhaupt? - fargen wir uns sowieso nicht. Der Mathematiker Bertrand Russel sagte einmal (sinngemäß zitiert):

"Es kommt also jemand zu mir und sagt: 'Sie können sagen, was sie wollen, aber trotzdem weiß ich, dass 2+2=4 ist.'
Ich frage: 'Aber was sind denn diese 2 und 2?'
'Nun, 2 Hunde plus 2 Hunde sind 4 Hunde.'
'Gut, aber Hunde können sehr verschieden sein, es gibt Dackel, Cocker...'
'Okay: Dann 2 Tiere plus 2 Tiere sind 4 Tiere.'
'Ja, aber die Unterschiede zwischen Tier und Pflanze sind nicht genau definiert.'
'Dann also: 2 Lebewesen plus 2 Lebewesen sind 4 Lebewesen.'
'Vielleicht, aber Lebewesen sind nicht genau definiert: Viren sind vielleicht welche, vielleicht nicht ...'
'Na gut: 2 Eigenschaften plus 2 Eigenschaften sind 4 Eigenschaften.'
Ich abschließend: 'Aha, wir sind also bei den Eigenschaften angekommen? Dann können wir ja gleich wieder von vorn anfangen.'"

Meine Überlegung dazu:
Wir reden immer so leichtfertig über Zahlen dahin, dabei übersehen wir aber, das wir gar nicht so genau wissen (wollen), was das eigentlich ist: Eine Zahl.
Nicht umsonst gibt es den Spruch:Äpfel mit Birnen vergleichen.

Ich lege vor uns 3 Äpfel, 3 Regenwürmer und 3 Steine. Was ist nun die Zahl? Man sieht:
Entweder habe ich 3 Früchte, oder ich habe 6 Lebewesen, oder ich habe 9 Objekte.
Ohne eine zusätzliche Kategorie ist der Zahlbegriff bedeutungslos! Was gibt uns also das Recht, einfach so Zahlentheorien aufzustellen?
 

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Giacomo_S schrieb:
Im Grunde läuft doch alles auf eine (zwar historische, dennoch ungeklärte) Frage hinaus:

Ist die Mathematik als solche immanent vorhanden, eine "Naturkraft" sozusagen - oder ist sie reines Menschenwerk? Gäbe es die Mathematik auch ohne den Menschen, oder nicht?
Gute Frage. Manch Physiker sieht die Mathematik in der Physik, oder besser gesagt, in unserem Universum am Werk. Was auch immer vor dem Menschen war, es funktionierte nach Gesetzen. Der Mensch probiert, die Gesetze und Kräfte, die hinter allem stecken zu erfassen, zu beschreiben und zu verstehen. Er setzt Formeln und sein Zahlensystem auf diese Gesetze an und stellt fest, dass sie "brauchbar" sind. Wenn es jedoch um die Kräfte und Gesetze geht, die alles im Innersten zusammenhalten, nimmt die Präzision ab und die Spekulation zu. Jedoch erscheint das Existente strukturiert, "mathematisch".

Meine Überlegung dazu:
Wir reden immer so leichtfertig über Zahlen dahin, dabei übersehen wir aber, das wir gar nicht so genau wissen (wollen), was das eigentlich ist: Eine Zahl.
Da haste mal wieder Recht. :)

Ohne eine zusätzliche Kategorie ist der Zahlbegriff bedeutungslos! Was gibt uns also das Recht, einfach so Zahlentheorien aufzustellen?
Wir setzen uns das Recht. Widerspricht ja keiner.
Aber das ist ja mal eine interessante Erkenntnis: Wir wissen nicht, was wir tun, da wir über Dinge theoretisieren, über die wir eigentlich noch nie eine genaue Vorstellung hatten.

Es soll ja eine Volksgruppe geben, die nicht zählt, und sie soll damit erstaunlich glücklich sein.
 

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