Weiß der Mensch, welches Gestirn er bewohnt?
Eine kleine Fabel zum Verhältnis von Mensch und Erde
von Jochen Kirchhoff (lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin)
Manchmal gewinnt man den Eindruck, der Mensch habe sich im Gestirn geirrt, so wie man sich in einer Tür irren kann (etwa in einem Hotel) und sich dann unter Entschuldigungen zurückzieht.
Manchmal hat man den Eindruck, der Mensch sei hier abgesetzt worden, vielleicht aus irgendwelchen interstellaren Räumen oder aus fernen, vergessenen Welten, und habe seine Instruktionen vergessen oder verloren, er habe weder Kompass noch Landkarte noch eine hinreichende Vorstellung über die Art und Beschaffenheit dieses irdischen Bodens.
Der Mensch, so könnte es scheinen, ist der wahre und eigentliche extraterrestrische, der es bis zum heutigen Tage versäumt hat, diesen Planeten zu verstehen und, als ein verstehender, wirklich zu bewohnen.
Was heißt das?
Lange, lange hielt der Mensch den ihn tragenden Boden für klein und schmal, für eine schmale Plattform seines Wirkens.
An den Rändern dehnte sich die Welt als großes X, und alle Phantasien und Projektionen konnten sich hier tummeln.
Der Mensch begriff, dass er mit all dem zu tun hatte; die Tiere waren ihm nahe, die natürliche Umwelt war ihm nahe. Sie war dicht und bedrohlich, sie spendete Leben und Tod. Der Boden war weitgehend ruhig, nichts schien auf eine Bewegung zu deuten. die Welt war ein
heimlich-unheimlicher, ein bergender Ort, der zugleich Monster barg und entließ. Die Welt war eine Art Höhle, nur schwach erleuchtet von den Fackeln des quälend langsam zu sich selbst erwachenden Geistes.
Überall war Bedrohung; Angst und Sorge für den nächsten Tag bestimmten das Leben. Irgendwann jedoch weitete sich der Horizont, er wurde heller und offener. Der Mensch erwachte zum Geist.
Das licht des mentalen Geistes war die Leuchte am Himmel seiner Kultur. Und der mentale Geist leuchtete Welt und Umwelt aus, zählte und vermaß die Schatten in der Höhle Platons*.
(*Platons Höhlengleichnis:
Nach Platon gleicht das menschliche Dasein dem Aufenthalt in einer Höhle: Der Mensch erblickt nur die Schatten der Dinge, die er aber für die Wirklichkeit hält. Nur der Philosoph ist in der Lage, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.)
Darin entwickelte er eine schwindelerregende Genauigkeit. Der mentale Geist mathematisierte die Schatten an der Innenwand der Höhle, und nur selten drang etwas Licht einer größeren, weiteren und tieferen, einer wahrhaft kosmischen Wirklichkeit in sein Auge.
Platon hat das ins Bild gebracht.
Seitdem ist die Höhle minutiös vermessen worden. Genauer: Die Schatten, belebt mit dem Blut unzähliger Menschen, haben sich zu Mustern und mathematischen oder geometrischen Figurationen geordnet; die Welt wurde überschaubar und damit - zunächst - weniger bedrohlich.
Der Intellekt feierte seine Triumphe. So stehen wir heute da, obwohl inzwischen auch die Überschaubarkeit, wie die Anschaulichkeit überhaupt, zu Bruch ging.
Das Weltganze ist rätselhaft wie eh und je, nur die Schatten in der Höhle Platons sind detailliert und trennscharf wie nie zuvor kartografiert worden. Auch für uns brandet das Unbekannte, Dunkle, der kosmische Abgrund an den Rändern unserer Existenz, angefüllt mit mathematischen und religiösen Phantasien oder Projektionen. Wir bauen Modelle, und wir nisten uns darin ein. Auch die Erde haben wir zum Modell gemacht. Wir haben ihr viele Geheimnisse abgelauscht, aber ihr wirkliches Geheimnis ist verborgen geblieben.
Irgendwie haben wir an der erde vorbei gelebt; und nun, spät genug, begreifen das auch einige von uns, begreifen, das wir etwas fundamental falsch gemacht, etwas essentielles nicht gesehen, nicht wahrgenommen haben.
Aber was?
Liegt es an der Unzulänglichkeit unserer Karten, unserer Modelle, an der Überschärfe (und zugleich Dumpfheit) unseres Intellekts? Sind unsere Körper zurückgeblieben, unsere Seelen? Fast wirkt es, als könne der Mensch nun nicht mehr innehalten, nicht mehr stoppen im globalen Projekt der Vernutzung und Zerstörung der Erde.
Weiß der Mensch, welches Gestirn er bewohnt? Vielleicht ahnen es einige, die meisten jedenfalls ahnen oder wissen es jedenfalls nicht. Vielleicht wollen sie es gar nicht wissen. Man hat sie hier abgesetzt, und da die ihnen mitgegebene Order vergessen oder verloren wurde, tappen sie recht hilflos umher.
Begriffen hat der moderne Mensch, dass der ihn tragende Boden sich in rasender Geschwindigkeit durch das All bewegt. Da er nichts davon merkt, beunruhigt ihn das nur selten. Er weiß, dass diese große Kugel von vielfältigem Leben erfüllt ist, dass er Teil einer das Gestirn umhüllenden und die globale Oberfläche auch prägenden Biosphäre ist, die nicht sehr weit ins all hinausragt. Jenseits dieser dünnen Schicht beginnt das auch vom Sonnen-und Sternenlicht nicht erhellte beinahe-nichts des Weltenraums.
Platons Höhle ist ins gigantische vergrößert worden, doch sie selbst wurde nicht verlassen, aller Projektionen und Mutmaßungen ungeachtet, die als "Kosmologie" bezeichnet werden.
Auch hier erweist sich der Mensch als trickreicher Vermessungskünstler, als staunenswerter Kartograph. Der wissenschaftliche Mensch - der homo scientificus- kartografiert die kosmische Höhle, seine Messungen werden immer präziser (nicht unbedingt intelligenter). Der homo scientificus ist schnell, präzise und gut bewaffnet. Die technische Verfeinerung seiner Sinnesorgane wird immer gespenstischer.
Alles, buchstäblich alles, wird vor den kalten Richterstuhl einer technisch-machtförmig bestimmten Vernunft gezogen. Die erde verdorrt dabei.
Im fröhlichen Wirtschaften und technischen Machen, im krakenförmigen wuchern der Maschinen hat der Mensch vergessen, dass seiner mentalen und ökonomischen Expansionswut keine ähnlich expansionsfähige Erde entspricht. Das All wird als expandierend imaginiert, aber die Erde expandiert nicht mit.
Der Kolonisator hat übersehen, dass das ihn (noch) tragende Gestirn nicht nur endlich ist, wie er selbst in seiner Leiblichkeit, sondern auch einer besonderen Pflege bedarf, und genau dies meint das römische Wort cultura: Die ehrfurchtsvolle Pflege des Bodens, der Erde.
Kultur ist Pflege der Erde.
Der wissenschaftlich- technische Mensch hat nie ernsthaft ins Kalkül gezogen, dass ihn die Erde einmal abstoßen könnte wie einen lästigen, ja tödlichen Parasiten. Das Vertrauen des Menschen in die erde, in die Unverrückbarkeit der kosmisch-natürlichen Abläufe, einschließlich der Regenerationsfähigkeit des irdischen Bodens, ist verblüffend. Wenn die Erde sich gelegentlich verweigert, wenn sie bebt oder unkontrollierte Flutungen den Menschen bedrohen, löst dies Entsetzen und Schock aus.
Weiß der Mensch, welches Gestirn er bewohnt?
Hat man ihm gesagt, als er zu seiner Mission zu diesem Gestirn aufbrach, dies sei ein unbelebtes, ein ohne Widerstand zu kolonisierendes Land?
Hat man ihm-bewußt-verschwiegen, das er auf einem großen Lebewesen gelandet ist?
Die kosmische Kugel gibt gelegentlich Zeichen von sich, die auf das atmen (und leiden?) eines Organismus hindeuten. Damit hatte der Kolonisator nicht gerechnet; Das war nicht enthalten in seiner Computersimulation. Doch nun zuckte und zappelte das Bild, zeigte lebendigen Eigensinn und setzte dem technischen Machen und Simulieren Widerstand entgegen.
Das ist die ökologische Krise.
Das Lebewesen Erde (Gaia) zwingt uns zu einem Dialog, zertrümmert unsere endlosen (zutiefst neurotischen) Monologe. Nun kann es uns gehen wie den Männern, denen ihre Frauen einen Dialog abverlangen und dem die Männer gerne ausweichen möchten, weil sie sich hier auf heiklem und unsicherem Boden fühlen. „Du hörst mir ja gar nicht zu!“ „Interessiert dich das überhaupt?“ Ja, doch, es interessiert mich. Wirklich. Ich höre zu, wir können darüber reden. So, herausgefordert und sichtlich gequält, verhält sich der homo faber, der technische Mensch/Mann, wenn ihn Gaia zur Rede stellt, indem sie ihm androht, ihm die Lebensgrundlage zu entziehen.
Gaia, die für dumm und bewußtseinslos gehaltene, spricht aus einer hohen Intelligenz heraus. Und dies scheint die Kapazitäten des homo scientificus zu überfordern.
Der Dialog zwischen dem kosmischen Lebewesen Gaia und dem modernen/postmodernen Menschen hat gerade erst begonnen. Mit ungewissem Ausgang.
Als Kolonisator jedenfalls wird der Mensch nicht überleben. Und was bislang als Ökologie gilt, ist kaum mehr als eine Spielart der technischen Bewusstseinsform.
Eine neue und andere Ökologie, die der kosmischen Intelligenz der Erde gerecht wird, ist gefordert.
Wird unsere Intelligenz dafür ausreichen?