Biologismus in der Psychiatrie

Lt.Stoned

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hallihallo

ich wollte mich mal ein bischen konstruktiv einbringen.
ich bin kein fachmann, alle aussagen beruhen auf persönlichen erfahrungen, erfahrungen mit mitmenschen, und dingen die ich im laufe der zeit gelernt habe.
zu meiner krankheitsgeschichte:
ich habe depressionen(seit einigen jahren), und in der kindheit unerkanntes/unbehandeltes ADS.

Ich schreib einfach mal auf was ich so für Gedanken beim lesen des threads hatte, vll nehm ich auch auf den ein oder andern bezug.

zuerst einmal möchte ich über etwas sprechen was hier meine ich auch ein bischen anklang, nämlich diese diskussion über zb ADS/ADHS, inwiefern dass eigentlich überhaupt diagnose ist, oder die kinder sich nur mal austoben müssten, überforderte eltern/lehrer etc.
ich schließe mich der meinung an, dass es schwierig ist zu sagen, wann is ein kind einfach natürlich lebhaft/sprunghaft von der persönlichkeit, und wann beginnt eine krankheit. das ganze ist natürlich definiert, wenn es in dem und dem maße das leben beeinflusst und erschwert, spricht man halt von einer krankheit. genauso wie bei depressionen oder anderen krankheiten: der eine mensch ist vielleicht einfach ein bischen schwermütiger vom typ. aber wenn irgendwann zu stark die lebensqualität leidet, muss etwas geschehen.
um zum ADS zurückzukommen: für mich steht es außer frage dass diese diagnose real ist, und dass es durchaus wirksame ansätze gibt damit umzugehen. dabei geht es sicherlich in den wenigsten (wobei es bestimmt auch existiert) fällen darum nervige kinder ruhigzustellen, wie man es oft von kritikern der pharmaindustrie und moderner psychotheraien usw hört.
vielleicht sollten diese menschen das ganze mal aus einer anderen sicht sehen: es kann einen unheimlichen leidensdruck erzeugen, nicht in der lage zu sein sich auf bestimmte sachen zu konzentrieren, ständig springende gedanken zu haben, extremst schnell das interesse zu verlieren sobald etwas verstanden wurde uswusw. und dabei rede ich nich von "ach mathehausaufgaben sind so nervig ich krieg das garnich so richtig hin heute ich mach mal wa anderes". sondern von zuständen die dazu führen dass menschen angststörungen entwickeln, nicht in die schule/uni/wohinauchimmer gehen können, nicht in der lage sind einen stift hochzuheben um nur wenige sätze zu schreiben, sozialphobien entwickeln weil sie sich menschlich unzureichend fühlen, und einiges mehr. menschen denen es so geht sind höchstwahrscheinlich dankbar für mittel wie das oft gescholtene ritalin (es gibt heutzutage auch nebenwirkungsärmere alternativen btw), da sie ihnen überhaupt erst ermöglichen in einer zumindest ein bischen zufriedenstellenden form am leben teilzunehmen.
Menschen mit unbehandeltem ADS/ADHS haben eine sehr viel höhere wahrscheinlichkeit suchtkrank zu werden (stichwort selbstmedikation uA), und sekundärerkrankungen wie zb depressionen zu entwickeln.
heutzutage geht der trend ein bischen dahin eher zögerlich medikamente zu verschreiben, und noch mehr mit verhaltenstherapien, individueller förderung etc zu arbeiten, was ich sehr schön finde. trotzdem steht außer frage dass medikamente eine erhebliche besserung der lebensqualität herbeiführen können, wenn ein guter arzt mit dem patienten zusammen das richtige in der richtigen dosierung findet. die typischen ritalinleichen die man so im volksbewusstsein mit ad/hs in verbindung bringt haben entweder die falsche oder zu hohe medikation, oder sie sind ein fall von überforderte eltern stellen das kind ruhig, was aber keineswegs die norm ist.

das bringt mich zum nächsten punkt:
semiramis schrieb
Nebenbei dazu, dass Medikamente gegen Epilepsie oder Allergien gegen Depressionen eingesetzt werden: Wir sind so weit vom Verstehen der genauen chemischen Prozesse entfernt, und eine zugefügte Substanz wirkt nicht nur an einer einzigen Stelle, gleicht eher einem Breitbandhammer mit verschiedenen Auswirkungen an verschiedensten Stellen - das scheint mir eher der Grund dafür, dass sich solche Medikamente mit Erfolg (und m.W. werden sie gerade auch dann "durchprobiert", wenn die klassischen nichts bringen...) gegen Depressionen einsetzen lassen - dass man da einen (stärkeren) Zusammenhang zwischen Allergien und Depressionen ableiten könnte, erscheint mir sehr weit hergeholt.
dazu fiel mir nur grad ein, nur als kleine ergänzung für interessierte leser:
neuroleptika und antihistamine werden oft zur behandlung von depressionen eingesetzt, nicht weil sie eine antidepressive wirkung haben, (gibt natürlich ausnahmen) sondern weil die nebenwirkungen erwünscht sind. zb machen viele neuroleptika und antihistamine schläfrig - bei vielen depressiven eine erwünschte wirkung um schlafprobleme ein wenig zu bekämpfen, ohne auf längere dauer wesentlich schädlichere benzos fressen zu müssen.

jemand sagte noch (sorry is spät und die konzentration lässt nach :lol: ) , gegen antidepressiva sprächen die nebenwirkungen und abhängigkeit. dazu ist zu sagen, dass die wenigsten modernen antidepressiva abhängigkeitspotential haben. moderne serotonin / noradrenalin / dopamin wiederaufnahmehemmer sind allgemein nicht süchtig machend. ausgeschlichen werden sie zur sicherheit trotzdem.
wenn ich mich recht erinner sind trizyklische antidepressiva da ein bischen anders, aber die sind heute sowieso maximal mittel der dritten oder vierten wahl.
zu den nebenwirkungen: es ist immer eine abwägung von kosten/nutzen. ist mir eine wesentlich gesteigerte lebensqualität durch etwas mehr antrieb, etwas weniger verzweiflung (auch hier ist das stereotype "ruhiggestellte" die ausnahme, und zeugt von falscher behandlung oder extrem schweren seltenen fällen) wert dafür ab und zu kopfschmerzen zu haben? definitiv. und so weiter. wenn der leidensdruck groß genug ist, nimmt man eine menge nebenwirkungen in kauf. in den meisten fällen aber lassen sich medikamente finden die ohne allzugroße komplikationen genommen werden können.
natürlich kann eine medikation niemals eine therapie ersetzen, soll sie auch garnicht, sondern nur unterstützend wirken, und zb eine therapiefähigkeit überhaupt erst herstellen.


und das letzte: ohne jetzt böse klingen zu wollen, aber für meinen geschmack wird zuviel von laien daran rumdiskutiert ob krankheit xy denn jetzt wirklich überhaupt existiert, und ob nich nur der lebenswandel ein bischen geändert werden müsste und alle wären glücklich, etcblabla. da sind im ansatz natürlich richtige gedanken bei. aber im endeffekt geht sowas an der realität der kranken vorbei. in der gesellschaft sind vorurteile und verschwörungstheorien gerade über den psychologischen teil der medizin, und pharmakonzerne, gang und gebe. und ich glaube es gibt nicht viele wissenschaftliche bereiche über die noch soviel missinformation und falsche vorstellung existieren wie über die psychatrie.
es geht nicht darum menschen wegzusperren ruhigzustellen zu entmündigen und all der mist auf den das ganze blabla anspielt.
es geht um kranke menschen die enorm leiden, denen geholfen wird.


ich hoffe ich bin nicht zu sehr abgeschweift?schwiffen? und dass das ganze einigermaßen zum thema passt


und denkt dran: die wirklichen vögel sind die ganze untherapierten die hier draußen frei rumlaufen ;)


wenn irgendwelche fragen sind immer raus damit


edit: das sog. burnout syndrom ist eine verlegenheitsdiagnose um erfolgreiche arbeitstiere die zu cool für depressionen sind zum arzt zu bekommen. kein scheiss ;)
 

Telepathetic

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trotzdem steht außer frage dass medikamente eine erhebliche besserung der lebensqualität herbeiführen können, wenn ein guter arzt mit dem patienten zusammen das richtige in der richtigen dosierung findet.
Genau das ist der Punkt, warum ich mich als Laie informiere und austausche. Denn es gibt auch schlechte Ärzte und Therapeuten. Es gibt Ärzte, die ihren Vorteil über das Wohl des Patienten stellen.

Wenn es falsch ist, die Psychiatrie und die psychopharmazeutische Industrie komplett abzulehnen, dann ist es auch falsch, der Psychiatrie und der psychopharmazeutischen Industrie uneingeschränkt zu vertrauen. Ein Teil der Patienten ist zufrieden mit der eigenen gesundheitlichen Entwicklung, ein anderer ist es nicht. In welchem Maße Arzt und Patient an der Zufriedenheit / Unzufriedenheit beteiligt sind, ist von Fall zu Fall verschieden.
 

agentP

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Wenn es falsch ist, die Psychiatrie und die psychopharmazeutische Industrie komplett abzulehnen, dann ist es auch falsch, der Psychiatrie und der psychopharmazeutischen Industrie uneingeschränkt zu vertrauen.

Es ist nie falsch eine kritische Haltung einzunehmen. Wer behauptet denn was anderes? Wer "vertraut" denn der Psychiatrie und der psychopharmazeutischen Industrie "uneingeschränkt"?
Die paar Psychiater und Neurologen die ich kenne jedenfalls nicht, die sind da durchaus kritisch, allerdings sind sie neben der fachlichen Einschätzung auch Sachzwängen unterworfen. Wie würdest du denn das in einer geschlossen Station in einer Psychiatrie handhaben oder in der Praxis mit einem suizidgefährdeten Depressiven? Gestalttherapie verordnen und hoffen, dass nix passiert bis die Therapie nach einem Jahr anfängt zu greifen?
 

Telepathetic

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Oh, mein Beitrag ist eine Erwiederung auf Lt.Stoned's Ansicht, dass Laien zu viel daran rumdiskutieren und zwar in der Art wie in diesem Thread. Von Notfällen hatte bisher noch niemand gesprochen.

In einer akuten Krise ist ein Patient eventuell gar nicht richtig ansprechbar. Von daher muß ein Arzt entscheiden, welche Vorgehensweise die richtige ist.
 

Telepathetic

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Wie würdest du denn das in einer geschlossen Station in einer Psychiatrie handhaben oder in der Praxis mit einem suizidgefährdeten Depressiven? Gestalttherapie verordnen und hoffen, dass nix passiert bis die Therapie nach einem Jahr anfängt zu greifen?
Man müßte fragen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sich jemand umbringen möchte. Würdest Du ohne nachzufragen, die betreffende Person medikamentieren? Genaues Zuhören und mit dem Patienten sprechen, würde dem Patienten das Gefühl geben, wichtig zu sein, gehört zu werden. Der Patient als Individuum würde dabei im Vordergrund stehen.

Ich habe den Eindruck, dass eben doch ein technisches Verständnis vom Menschen im Vordergrund steht und genau dieses technische Verständnis reduziert den Menschen auf Symptome, bzw. auf die Stufe einer Maschine, die als repariert gilt, sobald bestimmte technische Werte erreicht sind.

Anders gesagt: anstatt sich tatsächlich auf das, was direkt aus der Seele eines Menschen stammt einzugehen, wird eine Schablone angesetzt, die "Mensch" genannt wird. Es sind zu erfüllende Eigenschaften. Freiheit bedeutet, alle diese Schablonen abzulegen und man selbst zu sein.

Das Bild vom kranken Menschen ist mit dem Bild vom gesunden Menschen verbunden. Was in früheren Zeiten als krank erschienen ist, existiert heute nicht mehr, da sich das Verständnis vom Menschen gewandelt hat. Was heute als krank und gefährlich für die Gesellschaft gilt, ist morgen womöglich nicht mehr der Rede wert.
 

agentP

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Man müßte fragen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sich jemand umbringen möchte. Würdest Du ohne nachzufragen, die betreffende Person medikamentieren? Genaues Zuhören und mit dem Patienten sprechen, würde dem Patienten das Gefühl geben, wichtig zu sein, gehört zu werden. Der Patient als Individuum würde dabei im Vordergrund stehen.

Sei mir nicht böse, aber das ist doch naiv. Leute werden auch psychisch krank, obwohl sie einen verständnisvollen Partner oder ein stabiles Umfeld haben. Du denkst doch nicht ernsthaft, dass es für die im akuten Zustand einen Unterschied macht, dass ein Arzt aufmerksam zuhört. Das Problem bei so manchem Depressiven ist doch nicht, dass er von der Umgebung nicht das Gefühl gibt wichtig zu sein, sondern dass er selber sein Leben nicht für lebenswert hält. Von schwereren Stöungen, wo Menschen Dinge sehen oder Stimmen hören, die nur für sie real sind oder denken die ganze Welt (inkl. dem Arzt) hätten sich gegen sie verschworen, mal ganz zu schweigen.

Abgesehen davon glaube ich nicht, dass es üblich ist, dass ein Arzt ohne ausführliches Anamnesegespräch gleich die harten Drogen rausholt
 

Lt.Stoned

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Telepathetic schrieb:
Wie würdest du denn das in einer geschlossen Station in einer Psychiatrie handhaben oder in der Praxis mit einem suizidgefährdeten Depressiven? Gestalttherapie verordnen und hoffen, dass nix passiert bis die Therapie nach einem Jahr anfängt zu greifen?
Man müßte fragen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass sich jemand umbringen möchte. Würdest Du ohne nachzufragen, die betreffende Person medikamentieren? Genaues Zuhören und mit dem Patienten sprechen, würde dem Patienten das Gefühl geben, wichtig zu sein, gehört zu werden. Der Patient als Individuum würde dabei im Vordergrund stehen.

Ich habe den Eindruck, dass eben doch ein technisches Verständnis vom Menschen im Vordergrund steht und genau dieses technische Verständnis reduziert den Menschen auf Symptome, bzw. auf die Stufe einer Maschine, die als repariert gilt, sobald bestimmte technische Werte erreicht sind.

Anders gesagt: anstatt sich tatsächlich auf das, was direkt aus der Seele eines Menschen stammt einzugehen, wird eine Schablone angesetzt, die "Mensch" genannt wird. Es sind zu erfüllende Eigenschaften. Freiheit bedeutet, alle diese Schablonen abzulegen und man selbst zu sein.

Das Bild vom kranken Menschen ist mit dem Bild vom gesunden Menschen verbunden. Was in früheren Zeiten als krank erschienen ist, existiert heute nicht mehr, da sich das Verständnis vom Menschen gewandelt hat. Was heute als krank und gefährlich für die Gesellschaft gilt, ist morgen womöglich nicht mehr der Rede wert.


klar muss man fragen wie es dazu kommt dass sich der patient umbringen woltle etc. und im laufe der hoffentlich folgenden therapie werden die umstände im regelfall auch zur genüge von allen möglichen blickwinkeln durchleuchtet. im akuten fall gehts aber wirklich darum erst einmal leben zu retten, so dass sicherlich auch mal größere mengen beruhigungsmittel oder antipsychotika verschrieben werden ohne das vorher eine große anamnese und so weiter stattfindet. jemand der ernsthaft vorhat sich umzubringen wird in den seltensten fällen überhaupt darüber reden, und jemanden in so einem fall medikamentös ruhigzustellen, inkl rund um die uhr überwachung und eventueller anderer zwangsmaßnahmen ist mmn die einzige und richtige möglichkeit damit umzugehen. danach kann man immer noch sehen was denn jetzt wirklich kaputt war usw.
das technische verständnis vom menschen steht in dem maß im vordergrund, dass man wenn eine akute gefährdung vorliegt den menschen entmündigt und durch medikamente und oder andere maßnahmen vorübergehend entmachtet. sobald die akute gefährdung nicht gegeben ist rückt das "menschliche" in den vordergrund und man kann sich ausführlichst mit dem individuum und seiner geschichte, umständen usw beschäftigen. dieser zustand, dass das überhaupt möglich ist, muss manchmal aber erst hergestellt werden.


edit: das führt natürlich wenn man einen schritt weiterdenkt zu einer viel größeren moralischen frage: ist es richtig einem menschen die selbstbestimmung über das ende seines lebens zu nehmen?
ich bin mir nicht so sicher wie ich selbst das sehe. einerseits sagt der "liberale", und sachlich argumentierende teil von mir dass man dieses recht nicht hat. auf einer anderen (emotionaleren?) ebene denke ich, ein mensch der krank ist kann keine qualifizierte entscheidung diesbezüglich treffen. ich war nie suizidgefährdet, aber wenn ich daran denke wie verquer und realitätsfern ich dinge teilweise betrachtet habe in meinen dunkleren phasen, dann kann ich nur sagen, dass jemand der noch das bischen mehr krank ist und seinem leben tatsächlich ein ende bereiten will, unter allen umständen und zur not auch mit zwangsmaßnahmen daran gehindert werden muss.
ich denke dann geht es nicht mehr um: jemand ist anders, und das muss man akzeptieren, sondern jemand ist krank, und es gibt heutzutage gute prognosen für viele psychische krankheiten.
 

Telepathetic

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Ich bin noch nie suizidal gewesen. Aber ich wäre ohne medizinische Hilfe beinahe mal über den Jordan gegangen. Schön nicht? Happy End.

Nö, denn wie oft habe ich mir gedacht: gut, dann wär's das eben gewesen. Nur die, die zurück bleiben, können noch Schmerzen fühlen.


Du denkst doch nicht ernsthaft, dass es für die im akuten Zustand einen Unterschied macht, dass ein Arzt aufmerksam zuhört.
Ja, das denke ich. Und ich denke weiter, dass wir noch in einem Lande leben, in dem Psychisches, bzw. Anders-Sein stigmatisiert ist. Könnte ein Grund sein, warum sich manche Leute einfach umbringen, ohne mit irgendwem drüber gesprochen zu haben.

Schaut mal wie in der Öffentlichkeit auf bestimmten Gruppen rumgehackt wird. Politiker brauchen z.B. ein ziemlich dickes Fell, um mit dem Druck umzugehen. Jetzt bist du als psychisch labiler Mensch jedem äußerem Druck beinahe hilflos ausgeliefert. Da hält man doch erstmal hinterm Berg. Vor allem, wenn man unter Leuten lebt, die Abweichungen in irgendeiner Form negativ gegenüberstehen.
 

agentP

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Ja, das denke ich. Und ich denke weiter, dass wir noch in einem Lande leben, in dem Psychisches, bzw. Anders-Sein stigmatisiert ist. Könnte ein Grund sein, warum sich manche Leute einfach umbringen, ohne mit irgendwem drüber gesprochen zu haben.

Dann nochmal die Frage: Warum bringen sich auch Leute um, die in ein verständnisvolles, stabiles Umfeld eingebunden sind?
Warum bringen sich Leute um, die längst in einer Therapie sind und denen in diesem Rahmen aufmerksam vom Therapeuten zugehört wird?
Ganz abgesehen davon, dass du mit der impliziten Behauptung aufmerksames Zuhören würde nicht zur Behandlung gehören, einer Menge Pflegepersonal, Ärzten und Therapeuten imho unrecht tust.

Hier btw. mal ein Erfahrungsbericht eines von einer Depression betroffenen:

Trotz dieser fachärztlichen Behandlung und liebevoller Betreuung durch eine Freundin fühlte ich mich miserabel. Ich konnte mich praktisch nicht mehr versorgen, meine Ängste quälten mich und die körperlichen Beschwerden wurden unerträglich. Ich bat den Arzt um eine Einweisung in die Klinik. Dies machte Außenstehenden seltsamerweise mehr Sorge als mir. Bei der dritten Depression wusste ich ja schon was mich erwartete. Es ist wichtig, alle blöden Witze und Anspielungen über Psychiater und Nervenkliniken beiseite zu schieben. Sie werden von Leuten gemacht, die (noch) nicht von einer psychischen Erkrankung betroffen sind.

Auch haben wir immer noch ein Bild der Psychiatrie vor 40 Jahren im Kopf. Es hat sich viel getan. Die Klinik in der ich mich befand, hat ein hübsches Gärtchen mit einem Wasserlauf, eine Turnhalle, eine Kegelbahn, einen Aufenthaltsraum mit einem Fernsehgerät. Ich weiß, dass mich das alles nicht gerade entzückt hat und ich keine besondere Freude empfand. So ist das eben in der Depression. Aber ich weiß auch, dass bereits nach ein paar Tagen meine schlimmen körperlichen Beschwerden nachgelassen haben und ich wieder einigermaßen schlafen konnte.
[...]
Ich fühlte mich angenommen, aufgenommen, geborgen, beschützt, betreut, versorgt, verstanden. Ärzte und Schwestern kannten meine Krankheit, niemand drängte und forderte mich etwas zu leisten, wozu ich nicht im Stande war.
[...]
Eng mit der Klinik verbunden ist die Verabreichung von Medikamenten, von Antidepressiva. Die Vorurteile stehen vor der Tür: in der Klinik wirst du vollgestopft mit Medikamenten und diese Medikamente machen abhängig. Nichts stimmt. Niemand hat mich oder Mitpatienten vollgestopft.
[...]
Es war schließlich das Lithium, das mir half. Oder war es die Zeit? Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal. Hauptsache Erlösung von der Geißel Depression.
http://www.deutsche-depressionshilfe.de/stiftung/erfahrungsberichte.php
 

Semiramis

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der Erfahrungsbericht deckt sich im Grunde mit allem, was ich auch bisher so gehört habe.
Ich frage mich da jetzt allerdings, ob das nicht die gleichen Ansichten sind, die in dem Erfahrungsbericht kritisiert werden wie auch die, die Tele anspricht: Steht nicht hinter seiner "gesellschaftliche Stigmatisierung" die gleiche Ansicht, die auch noch immer ein völlig veraltetes Bild von Psychiatrien hat und etwas von "mit Medikamenten vollstopfen" redet?!
Man kann leider nich umhin, dass Teile der Gesellschaft ein solches Bild haben, aufgrund dessen sich Menschen mit Depressionen z.B. auch heute noch fragen müssen, wie sie Klinikaufenthalte in ihrem Lebenslauf kaschieren können - nur um eventuellen Vorurtheilen und damit Ablehnung aus dem Weg zu gehen.
Aber gottlob haben ja nicht alle die gleichen Vorurteile ( ;-) ) und manche kennen sich ja auch ein bissl besser aus... Das technische Verständnis vom Menschen scheint mir vor allem in der vorurteilsbehafteten Ansicht vorzuliegen und nicht in der Realität der wirklichen Behandlung - aber vielleicht ist das auch schon wieder zu einseitig gedacht?
 

agentP

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Man kann leider nich umhin, dass Teile der Gesellschaft ein solches Bild haben, aufgrund dessen sich Menschen mit Depressionen z.B. auch heute noch fragen müssen, wie sie Klinikaufenthalte in ihrem Lebenslauf kaschieren können

Schon. Aber gerade in dem Bereich "Entstigmatisierung" wird doch auch viel getan.
Allerdings ist doch genau da die Stoßrichtung "ist eine behandelbare Krankheit, wie jede andere auch und nicht ein Zeichen von plemplem sein oder Schwäche" in einem eklatanten Widerspruch zur Forderung psychisch Kranke eben nicht zu pathologisieren. Vielleicht muss man sich auch überlegen, was man zuerst möchte, wenn man nicht alles auf einmal haben kann.

Das technische Verständnis vom Menschen scheint mir vor allem in der vorurteilsbehafteten Ansicht vorzuliegen und nicht in der Realität der wirklichen Behandlung - aber vielleicht ist das auch schon wieder zu einseitig gedacht?
Das ist genau das, was mich interessieren würde: Es wird ein solches Bild behauptet und dann auch noch wahlweise "der Wissenschaft", "der Gesellschaft" oder wenigstens "der Psychiatrie" zugeschrieben, aber woran macht man das denn bitte fest? So wie ich das kenne gibt es dazu recht lebendige Diskurse und die Erfahrungsberichte dich ich aus dem RL kenn sprechen ebenso eine andere Sprache, wie z.B. der oben zitierte.
 

Telepathetic

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Dann nochmal die Frage: Warum bringen sich auch Leute um, die in ein verständnisvolles, stabiles Umfeld eingebunden sind?
Warum bringen sich Leute um, die längst in einer Therapie sind und denen in diesem Rahmen aufmerksam vom Therapeuten zugehört wird?
Ganz abgesehen davon, dass du mit der impliziten Behauptung aufmerksames Zuhören würde nicht zur Behandlung gehören, einer Menge Pflegepersonal, Ärzten und Therapeuten imho unrecht tust.

und aus dem Erfahrungsbericht:

Aber ich weiß auch, dass bereits nach ein paar Tagen meine schlimmen körperlichen Beschwerden nachgelassen haben und ich wieder einigermaßen schlafen konnte.
[...]
Es war schließlich das Lithium, das mir half. Oder war es die Zeit? Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal. Hauptsache Erlösung von der Geißel Depression.

Weil die körperlichen Schmerzen einfach zu groß geworden sind? Weil die eigenen Gedanken fehlinterpretiert worden sind, z.B. Befehle sich umbringen zu sollen? Weil in diesen Patienten vllt. vergangene Erfahrungen, die woher auch immer sie ursprünglich stammen mit voller Wucht hochkommen und dem Patienten ein dermaßes schlechtes Gefühl machen, dass sie den einzigen Ausweg im Selbstmord erkennen? Weil die ersten Jahre und die ersten Bezugspersonen am Prägendsten sind und die dort gemachten schlechten Erfahrungen nicht so ohne Weiteres durch einen späteren guten Freundeskreis, bzw. eine gute therapeutische Umgebung wettgemacht werden, weil die Erinnerungen an diese Erfahrungen irgendwo im Nebel des Erinnerungsvermögens stecken und gleichzeitig aktiv sind? Weil es sehr schwer ist, diese Erinnerungen und die in ihnen steckenden Wertungen von und Forderungen an einen selbst zu neutralisieren? Weil unterdrückte Emotionen einen plötzlich überschwemmen können und einen vom gewohnten Leben entfremden, bzw. daran hindern wie gewohnt zu leben? Weil gerade in der Therapie an die im Nebel liegenden (eigentlich passt die Metapher 'den Wald vor lauter Bäumen ncht sehen' besser) destruktiven Erfahrungen, Einstellungen, Denkmustern sichtbar gemacht werden? Weil es üblich ist, dass außerhalb der Gruppe, die einem Menschen seine individuellen Abwehrstrategien chronisch hat werden lassen, die unnütz gewordenen Abwehrstrategien den unterdrückten Schmerz usw. zum Vorschein bringen lassen, evtl. mit voller Wucht?

Die von Dir erwähnte Implikation ist mir nicht bewußt gewesen und erst recht nicht beabsichtigt. Ich will darauf hinaus, dass ein Mensch das Verhalten anderer Menschen mitbekommt, auch in außergewöhnlichen Zuständen. Und ich will darauf hinaus, dass auch ein kriselnder Mensch ein Mensch bleibt, der würdevoll behandelt werden möchte.

Das bringt mich dann auch zu dem, was Semiramis geschrieben hat. Ja, schönerweise ist nicht die komplette Gesellschaft engstirnig und im eigenen kleinen 'sicheren' Kosmos abgeschottet. Aber auch wenn sich Vieles verbessert hat im Bereich 'Gesellschaft' und 'Therapie', noch ist's eben nicht nur gut. Weswegen ich auch solche 'Vorurteile' vorbringe. ;)

Es wird ein solches Bild behauptet und dann auch noch wahlweise "der Wissenschaft", "der Gesellschaft" oder wenigstens "der Psychiatrie" zugeschrieben, aber woran macht man das denn bitte fest?
Erfahrungen vllt.?

Am Rande: was ich in diesem Thread vorbringe, ist eine Mischung aus Erfahrung am eigenen Leibe, Erfahrungen anderer, dem, was ich gelesen habe und dem, was ich mir dazu denke.
 

agentP

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Erfahrungen? Ich finde man sollte vorsichtig sein, aus persönlichen, subjektiven Erfahrungen -womöglich gar aus 3. Hand- auf das Allgemeine zu schliessen oder gar kausale Zusammenhänge herzustellen. Immerhin zeigt sich ja unter anderem in dem o.g. Erfahrungsbericht, dass andere Menschen offenbar ganz andere Erfahrungen machen.

Weil die körperlichen Schmerzen einfach zu groß geworden sind?
[...]
Weil es üblich ist, dass außerhalb der Gruppe, die einem Menschen seine individuellen Abwehrstrategien chronisch hat werden lassen, die unnütz gewordenen Abwehrstrategien den unterdrückten Schmerz usw. zum Vorschein bringen lassen, evtl. mit voller Wucht?
Aha. Und das lässt sich alles aufbrechen einfach indem ein Arzt einfach aufmerksam zuhört? Ich glaube eher nicht. Btw. im Erfahrungsbericht oben ist die Rede davon, dass der Arzt und die Partnerin alles geben und es dem Patienten trotzdem miserabel geht. Es scheit also nicht so einfach zu sein.
 

Telepathetic

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agentP schrieb:
Erfahrungen? Ich finde man sollte vorsichtig sein, aus persönlichen, subjektiven Erfahrungen -womöglich gar aus 3. Hand- auf das Allgemeine zu schliessen oder gar kausale Zusammenhänge herzustellen. Immerhin zeigt sich ja unter anderem in dem o.g. Erfahrungsbericht, dass andere Menschen offenbar ganz andere Erfahrungen machen.

Weil die körperlichen Schmerzen einfach zu groß geworden sind?
[...]
Weil es üblich ist, dass außerhalb der Gruppe, die einem Menschen seine individuellen Abwehrstrategien chronisch hat werden lassen, die unnütz gewordenen Abwehrstrategien den unterdrückten Schmerz usw. zum Vorschein bringen lassen, evtl. mit voller Wucht?
Aha. Und das lässt sich alles aufbrechen einfach indem ein Arzt einfach aufmerksam zuhört? Ich glaube eher nicht. Btw. im Erfahrungsbericht oben ist die Rede davon, dass der Arzt und die Partnerin alles geben und es dem Patienten trotzdem miserabel geht. Es scheit also nicht so einfach zu sein.
Ich finde man sollte in Erwägung ziehen, dass die persönliche Umgebung eines Menschen zur Formung seines Charakters beiträgt. Und ich finde, man sollte in Erwägung ziehen, dass sich Menschen im Grunde sehr ähnlich sind. Begegnet man Menschen mit Offenheit, dann öffnen sie sich irgendwann. Manche Menschen brauchen sehr lange, um sich zu öffnen, weil sich vorher niemand wirklich für deren Gefühle und Gedanken interessiert hat. Nur ein Beispiel, es gibt gewiss andere.

Dann ist da noch das Problem der Verständigung und des Verständnisses. Eine weitere Möglichkeit, warum sich Menschen trotz Zuwendung umbringen, wäre das Gefühl von niemandem verstanden zu werden und das Gefühl ganz alleine zu sein. Dem Zuhörenden fehlt vllt. lediglich der Kontext, um aus dem Gesagten des Patienten ein Verständnis für ihn ableiten zu können. Dem Therapeuten fehlt womöglich genau dieselbe oder zumindest eine ähnliche Erfahrung, um sich einfühlen zu können.

Natürlich vermag es ein Arzt oder Partner / Partnerin, die Familie, Freundeskreis oder irgendeine andere Gruppe nicht ohne Weiteres die krankmachende Vergangenheit eines Menschen mal eben so wieder heile zu machen. Das sind seelische Prozesse, die unter Umständen ein ganzes Leben dauern und in ganz schweren Fällen überhaupt nicht stattfinden. Aber es ist ein Anfang. Eine Garantie gibt's, soweit ich weiß, nicht, dass auch nur irgendeine therapeutische Bemühung zu einer Besserung führt. Man kann eben nicht verlangen, dass jemand die Fehler der Vergangenheit einfach so auszugleichen vermag.
 

agentP

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Aber es ist ein Anfang.
Und es ist als Anfang aller therapeutischen Bemühung und in deren Weiterführung soweit ich das sehe Konsens und Usus und nichts das man fordern müsste, aber das habe ich weiter oben geschrieben. Und es ersetzt allein keine medikamentöse Therapie, wenn der Fall akut ist und man es sich nicht leisten kann zu warten, bis der Patient sich öffnet, weil er bis dahin evtl. eine Gefahr für sich und/oder andere darstellt.
 

Telepathetic

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Das etwas Konsens und Usus ist, muß nicht heißen, dass es das Beste ist, bzw. ist eventuell das Beste nur aus der momentanen Sicht. ABER ..

.. ich möchte den Kreis schließen indem ich sage, dass ich formal den Fehler gemacht habe, eine sachlich angelegte Auseinandersetzung mit meiner subjektiven Seite zu vermengen. Dafür würde sich ein Erfahrungs-Blog besser eignen.

Immerhin habe ich in den letzten Tagen dank dieser Diskussion tiefere Einblicke in mich selbst erhalten. Bevor ich aber das eigentliche Thema noch mehr verwasche, sage ich:

Medikamente können positive Effekte auf die Gesundheit des Einnehmenden haben und der Einzelfall bestimmt, ob und in welchem Maße ein Medikament gegeben werden sollte.
 

Telepathetic

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Telepathetic schrieb:
Das etwas Konsens und Usus ist, muß nicht heißen, dass es das Beste ist, bzw. ist eventuell das Beste nur aus der momentanen Sicht. ABER ..

.. ich möchte den Kreis schließen indem ich sage, dass ich formal den Fehler gemacht habe, eine sachlich angelegte Auseinandersetzung mit meiner subjektiven Seite zu vermengen. Dafür würde sich ein Erfahrungs-Blog besser eignen.

Immerhin habe ich in den letzten Tagen dank dieser Diskussion tiefere Einblicke in mich selbst erhalten. Bevor ich aber das eigentliche Thema noch mehr verwasche, sage ich:

Medikamente können positive Effekte auf die Gesundheit des Einnehmenden haben und der Einzelfall bestimmt, ob und in welchem Maße ein Medikament gegeben werden sollte.
Wie schön, ein Artikel (ganz unten), der doch eher mich bestätigt (auch wenn es 'lediglich' um eine einzige 'Krankheit' geht) so dass ich das Thema wohl doch nicht verwaschen habe. Und es wird sogar davon gesprochen, dass ADHS keine Krankheit ist, sondern ein Deutungsmuster. Medikamentiert wird eine Abweichung von einer momentanen Norm.

Stichwort "Indexpatient" aus der Familientherapie. Der Indexpatient ist dasjenige Familienmitglied, das aufgrund der gestörten Verhaltensweisen der anderen Familienmitglieder krank wird. Diese Ideen sind nicht neu, sondern sind soweit mir bekannt, bereits in den 50ern oder 60ern von amerikanischen Psychiatern besprochen worden. Darunter auch von in diesem Thema erwähnten Laing. Giacomo_S hatte auch schon in diese Richtung gezeigt. Nicht die Symptome sind das Problem, sondern die falsche Einschätzung von Verhalten und in Reaktion darauf verabreichte Medikamente, die zwar das erwünschte Verhalten bewirken, aber unangenehme Nebenwirkungen haben, süchtig machen und deren Langzeiteffekte nicht bekannt sind.

Ich bin ja durchaus für Notfallmedikamente zu haben. Aber Psychopharmaka mit unbekannten Risiken und zweifelhaftem Nutzen über viele Jahre zu geben, halte ich weiterhin für falsch.

Wo die wilden Kerle wohnten
13.02.2012 · Ritalin ist eine Pille gegen eine erfundene Krankheit, gegen die Krankheit, ein schwieriger Junge zu sein. Immer mehr Jungs bekommen die Diagnose. Die Pille macht sie glatt, gefügig, still und abhängig.
 

agentP

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Ritalin ist eine Pille gegen eine erfundene Krankheit
Solche Formulierungen sind Effekthascherei. Gerade im Bereich der Psychiatrie sind eine ganze Menge Krankheiten "erfunden" in dem Sinne, dass sie diagnostiziert werden ohne, dass man sie -wie in anderen Bereichen- im Labor nachweisen könnte. Selbst Alzheimer wird per Fragebogen diagnostiziert, weil die einzig sichere Diagnose erst posthum möglich ist, weil die wenigsten sich gerne vorher das Gehirn in Mikroskop-taugliche Scheibchen schneiden lässt.
Das ganze Krankheiten "konstruiert" werden ändert aber doch nix daran, dass der Symptomkomplex, der da mehr oder weniger wilkürlich zu einer "Krankheit" zusammengefasst wird für die Betroffenen belastend ist. Und letzteres sollte imho das wichtigste Kriterium sein, ob man etwas behandelt oder nicht und nicht ob die Krankheitsdefinition auf dünnen Beinen steht oder nicht.
 

Telepathetic

Großmeister
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Der zitierte Satz lautet, wenn er vollständig zitiert wird, so:
Ritalin ist eine Pille gegen eine erfundene Krankheit, gegen die Krankheit, ein schwieriger Junge zu sein.

Wie wird die Symptomatik, die zur Diagnose "schwieriger Junge" führt, beschrieben? Andere fühlen sich gestört.

Jetzt kann man natürlich sagen, ist doch gut, Ritalin einzunehmen, die Leistung in der Schule steigt und das Kind ist schön ruhig. (Und das ist, was wir alle wollen, nicht wahr? Brave, unkomplizierte, leistungsfähige Kinder. Kinder, die alles machen, was die Erwachsenen von ihnen verlangen.) Und was ist, wenn sich die Einnahme von Ritalin nicht nur kurzfristig in seinen Nebenwirkungen als problematisch erweist, sondern später um so stärker, da bereits während der körperlichen Wachstumsphase gehirnverändernde Wirkungen eingetreten sind? Das ist nicht unwahrscheinlich, da auch der Körper eines ausgewachsenen Menschen durch die Einnahme von MPH mit Nebenwirkungen konfrontiert werden kann.
Untersuchungen zu den direkten und indirekten Kosten von ADHD belegen, dass der Anteil der direkten Medikamentenkosten verschwindend klein ist, wenn man die nachfolgenden wirtschaftlichen Auswirkungen durch Behandlung von Begleit- und Folgeproblemen (Depressionen, Sucht, Schmerzerkrankungen), Ausfall von Arbeitstagen bzw. vorzeitige / dauernde Arbeitsunfähigkeit oder auch nur die Betreuungstage für weitere Familienangehörige miteinrechnet.
http://web4health.info/de/answers/adhd-adultmph-efficacy.htm
 

agentP

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Wie wird die Symptomatik, die zur Diagnose "schwieriger Junge" führt, beschrieben? Andere fühlen sich gestört.

Nicht nur und das sollte man nicht einfach unterschlagen:

Er provoziert, obwohl er es nicht will, er fühlt sich missverstanden.

Und da sind wir wieder bei dem was ich schon mehrmals angedeutet habe:

Das ganze Krankheiten "konstruiert" werden ändert aber doch nix daran, dass der Symptomkomplex, der da mehr oder weniger wilkürlich zu einer "Krankheit" zusammengefasst wird für die Betroffenen belastend ist. Und letzteres sollte imho das wichtigste Kriterium sein, ob man etwas behandelt oder nicht und nicht ob die Krankheitsdefinition auf dünnen Beinen steht oder nicht.
http://www.faz.net/aktuell/politik/...dhs-wo-die-wilden-kerle-wohnten-11645933.html

Das gilt natürlich nicht für Störungen, die zu zu einer Gefährdung von sich und anderen führen kann, aber da gehört AD(H)S sicher nicht dazu.
 

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