Biologismus in der Psychiatrie

Goatboy

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Moment, Telepathetic, lass uns doch erstmal die offenen Fragen beantworten. Also, du sagst, Psychotherapie sei bei allen psychischen Krankheiten grundsätzlich besser als Medikation. Ich bitte dich um Belege dafür.

Tatsache ist eher, dass viele verschiedene, sich teils direkt widersprechende Studien existieren.
Studien, die besagen, psychische Störungen entstünden nicht im Gehirn? Kannst du mal ein paar nennen? Und bitte Studien, keine Einträge von chirurgie-portal.de oder ähnliche Späße.
 

Themis

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Bei allen akuten psychischen Erkrankungen sind Medikamente indiziert, schon allein wegen der bestehenden Fremd- bzw. Eigengefährdung.
Es gab auch mal die Theorie, dass die Suizidraten in den westlichen Industrieländern in den letzten beiden Jahrzehnten durch konsequente Therapie mit Psychopharmaka gesenkt werden konnten, wobei sich der Bezug von gesteigerten Verschreibungen und sinkenden Suizidzahlen in Studien so nicht nachweisen lies.

Aber gerade bei Psychosen und Depressionen ist die Krankheitssituation der Betroffenen durch eine adäquate Psychotherapie (entweder durch eine Verhaltenstherapie oder durch eine psychoanalytische Therapie) sehr gut zu beeinflussen. Denn beide Störungen resultieren laut Psychoanalytikern aus Abwehrmechanismen welche wiederum aus der unbewussten Kompensation von Konfliktsituationen resultieren. In der Psychoanalyse erfolgt dann (im Idealfall) in der Tat die Aufarbeitung der Ursache - wobei man sagen muss, dass je nach während des "Traumas" bestehender Entwicklungsphase und dem damit verbundenen Reifegrad der psychischen Funktion des Patienten verschiedene Abwehrmechanismen bestehen, die sich unterschiedlich beeinflussen lassen.
Die Borderlinestörung ist z.B. (da die Individuation schon früh einsetzt) eine im Gegensatz zur reaktiven oder posttraumatischen Störungen (welche auch zu Depressionen bei Menschen ohne nennenswerte Entwicklungsstörungen führen können) schwer zu behandelnde Störung. Diese brauchen auch meistens eine Psychotherapie.
Umgekehrt habe ich es auch schon oft erlebt, dass Menschen mit einer reaktiven Depression aus Gründen der fehlenden Therapiemöglichkeit nur mit Psychopharmaka und einfühlsamen Gesprächen durch den Hausarzt wieder stabil wurden.
 

Telepathetic

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@agentP und Goatboy: eure Versuche, mich in die Ecke zu drängen und festzunageln, funktionieren nicht.

Ich habe eine Menge Informationen gebracht, die wenigstens darauf hinweisen, dass Medikation mit Psychopharmaka problematisch ist. Das Thema verdient mehr Beachtung als nur ein Konsens darauf, dass Medikamente helfen können. Es existieren im Gegenteil genug negative Erfahrungen mit und professionelle Erläuterungen über Psychopharmaka und der Industrie und der Wichtigkeit der zwischenmenschlichen, bzw. interpersonellen Beziehung zwischen Patient / Klient und Therapeut. Ein Patient / Klient merkt doch, wenn ein Therapeut / Arzt nicht den Menschen sieht, sondern den Menschen durch eine Schablone hindurch. Oder gar seine Eigeninteressen über die des Patienten stellt. Vielleicht auch nicht. Aber gerade deshalb ist es doch so wichtig, darüber in der Öffentlichkeit ausführlich zu sprechen.

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Aus dem Buch "Gesprächspsychotherapie" von Jobst Finke (3. Auflage 2004, Thieme-Verlag), Kapitel 6 "Gesprächspsychotherapie und Pharmakotherapie", Unterkapitel 6.1 "Anwendungsbereiche der Therapie mit Psychopharmaka", Seite 147 erster Satz:
Der Anwendungsbereich von Psychopharmaka erstreckt sich inzwischen auf fast alle psychischen Störungen, wobei deren in zahlreichen Effektivitätsstudien nachgewiesene Wirksamkeit betont wird. Folglich blieb auch die Kontroverse nicht aus, ob bei Depressionen, Ängsten, Zwängen und Essstörungen Psychotherapie oder Pharmakotherapie das wirksamere Agens sei. (...) Jeder (gemeint sind Isaak Marks und Donald Klein, Klammerinhalt von Telepathetic) wertete das jeweils andere Verfahren als völlig unzureichend ab und beide beriefen sich dabei auf empirische Studien (Teusch und Gastpar 2000)

Robert Whitaker und andere Autoren stehen der allgemein verbreiteten Meinung über die Wirksamkeit von Psychopharmaka anders gegenüber. Das habe ich aber eigentlich alles schonmal geschrieben, bzw. angedeutet. Dennoch:
The astonishing increase in the disability numbers during the past fifty years raises an obvious question: Could the widespread use of psychiatric medications–for one reason or another–be fueling this epidemic? Anatomy of an Epidemic investigates that question, and it does so by focusing on the long-term outcome studies in the research literature. Do the studies tell of a paradigm of care that helps people get well and stay well over the long term? Or do they tell of a paradigm of care that increases the likelihood that people diagnosed with mental disorders will become chronically ill?
Anatomy of an Epidemic

(Der von mir bereits mehrfach erwähnte Ronald David Laing ist übrigens Psychiater gewesen. Er hatte also die Psychiatrie von innerhalb der Institution kritisiert.)

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Im oben bezeichneten Buch "Gesprächspsychotherapie", Unterkapitel 1.3 werden kurz die zentralen Wirkfaktoren von in der Psychotherapie i.A. und der Gesprächspsychotherapie i.B. besprochen.

Einmal werden ein paar Wirkfaktoren, die Yalom (Gruppenpsychotherapie, 1974) in Bezug auf Gruppentherapie herausgearbeitet hat, genannt: "Universalität des Leidens, Einflößen von Hoffnung, Identifikation, Katharsis, Einsicht, existenzielles Bewußtwerden, interpersonales Lernen".

Dann werden die von Pfeiffer 1991 in einer Fachzeitschrift erörterten Wirkfaktoren in der Psychotherapie aufgelistet:
"1. Mobilisieren der Zuversicht und Veränderungsbereitschaft,
2. Aufnehmen einer emotional bedeutsamen Beziehung,
3. Interpretation des Leidens und der Therapie nach einem plausiblen, der kulturellen Situation entsprechenden Konzept,
4. 'Auftauen' verfestigter Erlebens- und Verhaltensmuster,
5. korrigierende emotionale Erfahrungen mit Umstrukturierung von stereotypen Beziehungserwartungen."

Grawe (2000 in Praxis der Psychotherapie, S.314-325) nennt vier Wirkfaktoren in der Psychotherapie, die "bei den einzelnen Verfahren unterschiedlich ausgeprägt seien":
"- Ressourcenaktivierung,
- Problem- bzw. Motivationsklärung,
- Problemaktualisierung oder prozessuale (Erlebnis-)Aktivierung,
- Fördern der Problembewältigung."

Grawe hat mich besonders interessiert, da im Buch die Rede ist von fast 1000 durch Grawe ausgewerteten Psychotherapiestudien. Also habe ich im Internet nach Grawe gesucht und Wiki stellt einige Informationen über Klaus Grawe zur Verfügung. Darunter ein Link zur Neuropsychotherapie. Aus dem Artikel möchte ich zwei Stellen zitieren:
Die grundlegendste Einsicht war die enorme Fähigkeit des Gehirns, sich lebenslang zu verändern (neuronale Plastizität des Gehirns) als Folge menschlichen Erlebens und Verhaltens. Daraus wird rückschließend auch therapeutischen Interventionen der Effekt zugesprochen, im Gehirn ablaufende neurobiologische Prozesse und Strukturen zu verändern. Damit erscheint es möglich, Erkenntnisse über störungsspezifische negative Hirnveränderungen zu gewinnen, diese diagnostisch zu nutzen, und daraus wirksame therapeutische Interventionen zu entwickeln und in der Therapie zu berücksichtigen. Hierbei ergibt sich als entscheidende Frage, durch welches Therapeutenverhalten die neuronalen Bedingungen geschaffen werden, die dauerhafte therapeutische Veränderungen ermöglichen.

und

Für die Therapie ist relevant, dass es erst durch konkrete positive Lebenserfahrungen zu selbst aufrechterhaltenden, neuen und gesünderen Strukturen und Abläufen im Gehirn kommt. Die Bearbeitung eines Problems sollte daher im Dienste eines wichtigen Annäherungsziels des Patienten stehen (= starke motivationale Aktivität), da nur dann das Dopaminsysytem aktiviert und optimales Lernen im Sinne eines Annäherungsschemas möglich ist. Menschen lernen daher Dinge leichter, die sie auch lernen wollen. Dabei steht das bewusste Ziel allerdings in der neurologischen Hierarchie nicht oben, sondern wird von höher angesiedelten, unbewussten (impliziten) Zielen dominiert. Wenn Menschen also eine bewusste (explizite) Entscheidung fällen, ist diese bereits implizit gefallen. Psychotherapie muss sich also darauf konzentrieren, den expliziten Funktionsmodus des Gehirns zu nutzen, um implizite Veränderungen herbeizuführen. Das heißt übersetzt, dass der Therapeut einem Patienten so oft wie möglich Wahrnehmungen ermöglichen sollte, die eine wichtige Bedeutung für seine motivationalen Ziele haben.

In all dem, was ich in diesem Posting zitiert habe, sehe ich vor allem eines im Vordergrund: die aktive Mitgestaltung der Therapie durch den Klienten. Klar, wenn einer komplett durchknallt, dann ist er oder sie vielleicht nicht mehr richtig ansprechbar, aber meine Erfahrung ist, dass Menschen nicht einfach mal so durchdrehen, sondern dass dahinter irgendwelche Erfahrungen stehen. Natürlich müssen die nicht alle in der Kindheit gewesen sein und wie eine Zeitbombe darauf warten, hochzugehen.

Vielmehr geht es um die Veränderung von den aus Erfahrungen gewonnenen hemmenden Interpretationen. Ich frage mich nun, inwiefern ein Medikament Einfluß auf die inneren Bilder und die damit verbundenen Gefühle haben kann. Ansonsten habe ich eigentlich alles schon mal und schon mehrfach vorgebracht.

Btw, wenn ich sage, dass Therapietechniken nicht auf Therapie beschränkt bleiben sollten, sondern auch im Alltag gelebt, dann kommt das aus der Lektüre solcher Bücher wie "Gesprächspsychotherapie" von Jobst Finke. Ich bin nunmal der Meinung, dass vieles, was professionelle Technik ist, in gewisser Weise im Alltag bereichernd wirkt. Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient / Patient hat mit sonstigen Beziehung eines gemein: es befinden sich zwei oder mehr Menschen in einem Kontakt und die Qualität der Beziehung ist entscheidend für Vertrauen und inhaltlich wertvollem Austausch. Ist eigentlich sogar ein Erfahrungswert.
 

Goatboy

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Hier beißt sich doch die Katze in den eigenen Schwanz. Du führst Meinungen von Einzelpersonen auf, welche sich auf "empirische Studien" beziehen, die aber natürlich nicht genannt werden. Dann wendest du einen Taschenspielertrick an und hoffst damit davonzukommen, indem du Fragen als Aussagen darstellst ("Could the widespread use of psychiatric medications–for one reason or another–be fueling this epidemic?"). Glaubst du wirklich, hier würde irgendjemand auf sowas reinfallen? In deinen zitierten Meinungen von Einzelpersonen habe ich weiterhin kein einziges Mal die Haltung herausgelesen, Psychotherapie sei grundsätzlich besser als Medikation. Ist es denn so schwer zu verstehen, was ich meine, wenn ich nach Belegen für deine Behauptung frage? Ich habe mir das in etwa so vorgestellt:

Our results indicated that both psychotherapy and medication are viable treatments for unipolar depression and that psychotherapy may offer a prophylactic effect not provided by medication. However, our analyses diverged from previous findings in that effects were not consistent and medication was significantly more efficacious than psychotherapy in the treatment of dysthymia.

A meta-analysis of psychotherapy and medication in unipolar depression and dysthymia
Zac E. Imel, Melanie B. Malterer, Kevin M. McKay, Bruce E. Wampold

Journal of affective disorders 1 October 2008 (volume 110 issue 3 Pages 197-206 DOI: 10.1016/j.jad.2008.03.018)

Pharmacologic treatments may be more effective than psychological interventions in the treatment of dysthymia. Pharmacologic treatment with SSRIs may also be more effective in the treatment of major depressive disorder, although these differences are small and probably have little meaning from a clinical point of view. We can conclude that both psychological and pharmacologic therapies are effective in the treatment of depressive disorders and that each has its own merits.

Are Psychological and Pharmacologic Interventions Equally Effective in the Treatment of Adult Depressive Disorders? A Meta-Analysis of Comparative Studies

Pim Cuijpers, Ph.D.; Annemieke van Straten, Ph.D.; Patricia van Oppen, Ph.D.; and Gerhard Andersson, Ph.D.

Journal of Clinical Psychiatry 2008;69:1675-­1685
Solange du keine nachvollziehbaren Belege für deine so vehement vertretene Einstellung liefern kannst, muss ich davon ausgehen, dass zu zwar eine starke Meinung hast, aber leider keine Ahnung.

Ach ja, und was ist denn jetzt mit den Belegen dafür, dass psychische Störungen nicht im Gehirn entstehen?
 

Lt.Stoned

Großmeister
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Telepathetic schrieb:
@agentP und Goatboy: eure Versuche, mich in die Ecke zu drängen und festzunageln, funktionieren nicht.

Ich habe eine Menge Informationen gebracht, die wenigstens darauf hinweisen, dass Medikation mit Psychopharmaka problematisch ist. Das Thema verdient mehr Beachtung als nur ein Konsens darauf, dass Medikamente helfen können. Es existieren im Gegenteil genug negative Erfahrungen mit und professionelle Erläuterungen über Psychopharmaka und der Industrie und der Wichtigkeit der zwischenmenschlichen, bzw. interpersonellen Beziehung zwischen Patient / Klient und Therapeut. Ein Patient / Klient merkt doch, wenn ein Therapeut / Arzt nicht den Menschen sieht, sondern den Menschen durch eine Schablone hindurch. Oder gar seine Eigeninteressen über die des Patienten stellt. Vielleicht auch nicht. Aber gerade deshalb ist es doch so wichtig, darüber in der Öffentlichkeit ausführlich zu sprechen.

vielleicht habe ich die diskussion etwas missverstanden, aber ich glaube du missverstehst die anderen teilnehmer etwas. soweit ich das sehe, stimmen alle darin überein, dass medikation nie eine therapie ersetzen kann, dass es gute und schlechte ärzte gibt, dass es schlecht is einen psychisch kranken unbesehen zuzudröhnen und das wars, und so weiter und so fort.
natürlich gibts negative berichte über psychopharmaka. und über schlechte therapeuten. genauso kann ich im internet den namen eines örtlichen chirurgen eingeben und finde ellenlange beitrage von massenhaft menschen die sich über den arsch beschweren. schwarze schafe gibt es überall, ob das in der psychologie, bei den schnipplern, der inneren medizin....oder bei der müllabfuhr is.
unbestreitbar ist, dass es fälle gibt, wo bestimmte medikationen notwendig sind um leben zu retten, auch in der psychatrie. unbestreitbar ist auch, dass es massenhaft fälle gibt, wo die richtige medikation mit der richtigen therapie die richtigen erfolge bringt.
ich habe das gefühl dass du implizierst dass dieses "kalte" abfertigen von menschen die norm is, ala oh ein depressiver, hier haste ne schachtel cipramil geh nach haus, oh ein adsler hier haste bischen ritalin nu is gut.
und das ist ganz einfach nicht der fall.
mehr als in jedem anderen zweig der medizin hatte ich in der psychatrie das gefühl, dass sich menschen um die patienten kümmern. tag und nacht, egal was los is.

übrigens, wenn man sich einen therapeuten sucht und das gefühl hat dass er nicht richtig auf einen eingeht, desinteressiert ist, oder aus irgendwelchen andern gründen nicht mit ihm klarkommt - geht man einfach woanders hin. genau deswegen hat man immer unverbindliche 5 "test" sitzungen frei.
(deswegen nie nur eine möglichkeit suchen, wartezeiten können u.U. lang sein und wenn man dann nich mit dem typ klarkommt is schlecht).
 

agentP

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Danke, Lt. Stoned. Das unterschreibe ich zu 100%. Um nichts anderes geht es (mir).
 

hives

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Halbwegs passend zur Thematik:

Take, for example, the DSM-5’s new guidelines about “bereavement-associated” depression following the loss of a loved one. Previous versions of the DSM recommended against diagnosing major depressive disorder in mourners for eight weeks following a death, but the DSM-5 redacts this “bereavement exclusion.” As a result, says Lisa Cosgrove, a psychologist and professor at the University of Massachusetts in Boston, “what certainly can happen is that, after two weeks, people going through the normal grieving process would then be prescribed an antidepressant.” [...]

Now that psychiatrists can officially diagnose depression even when a patient is still grieving a loved one, experts say there may be a market for specialized antidepressants for mourners. Eli Lilly, for one, supported a clinical trial of its antidepressant Cymbalta for treating “bereavement-associated” depression. While the company says it is not currently evaluating Cymbalta for bereavement, Cosgrove notes that Lilly and other pharmaceutical firms have successfully expanded the uses for their drugs in the past. Some antipsychotic drugs, for example, have eventually been approved by the FDA for depression, bipolar disorder and autism. While Cymbalta was originally approved for diabetic peripheral neuropathy, according to the FDA, in recent years it has gained additional approvals for anxiety, depression, fibromyalgia, and most recently, chronic lower back pain—sometimes after relatively few clinical trials.
Drug companies look to profit from DSM-5
 

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