Biologismus in der Psychiatrie

Giacomo_S

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Fortsetzung von http://www.ask1.org/post539601.html#539601




Telepathetic schrieb:
Alle vier Links beziehen sich auf das raketenhaft angestiegene Phänomen der psychiatrischen Störungen und dem gut untermauerten Verdacht, dass Psychopharmaka der Grund dafür sind. Die Links beziehen sich zwar zuallererst auf die Situation in Amerika, aber Psychiatrie und Pharmaindustrie gibt's auch außerhalb der USA.

Derzeit lese ich das Sachbuch "Listening to Prozac", in dem der amerikanische Autor und Psychiater auf die wissenschaftlichen Modelle, aber auch philosophisch auf Depression und Medikamentation eingeht.

M.E. sind nicht Psychopharmaka der Grund für die Störungen, sondern das Symptom.
Und zwar insofern, dass eine wissenschaftliche Gesellschaft, die den Menschen zusehend biologistisch einschätzt, die "Optimierung" selbst kleinster "Stimmungsabweichungen" nur folgerichtig ist.
Im Grunde ein Reichenproblem.
 

agentP

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Und zwar insofern, dass eine wissenschaftliche Gesellschaft, die den Menschen zusehend biologistisch einschätzt, die "Optimierung" selbst kleinster "Stimmungsabweichungen" nur folgerichtig ist.

Wenn du damit meinst, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen von Norm und Abweichung verändern, dann gebe ich dir Recht, aber den Zusammenhang mit "biologistisch" oder "verwissenschaftlichung" halte ich für ziemlich spekulativ.
Ganz "unbiologistisch" dem Schizophrenen einen Exorzismus zu verordnen war schließlich nicht weniger ausgrenzend oder wenig hilfreich.
Dass Kinder früher weniger vor der Playstation sassen und mehr draussen rumtobten und so ein "ADHS-Kind" früher kaum aufgefallen wäre hängt zwar an der Entwicklung bestimmter Aspekte der Gesellschaft, aber doch nicht am "Biologismus" oder an der Wissenschaft.
Ein Aspekt wäre evtl. noch, dass natürlich Pharmakonzerne durchaus nix dagegen haben, wenn ein paar Diagnosen dazu kommen. Da dürfte aber eher wirtschaftliches als wissenschaftliches Interesse dahinterstecken. Selbiges gilt allerdings auch für die esoterische Lebenshilfebranche. Auch die wollen schließlich vom lebendigen Mondwasser über Ratgeberbücher bis hin zu Bachblüten ihren Kram loswerden.
 

Telepathetic

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M.E. sind nicht Psychopharmaka der Grund für die Störungen, sondern das Symptom.
Meinst Du, dass die Symptome falsch bewertet werden? Ein Symptom selbst kann nicht der Grund für eine Störung sein, weil das Symptom ein sichtbares oder erlebbares Zeichen ist. Hier in diesem Sinne ein Hinweis, dass was nicht stimmt.
Ich kann mir aber vorstellen, dass wenn das Symptom falsch bewertet wird, auch eine Störung entstehen kann. Z.B.: jemand bemerkt eine Veränderung in seiner Wahrnehmung der Dinge oder sich selbst. Dieser jemand schildert die Veränderung einem anderen und der erklärt nun, dass die Veränderung Zeichen einer Störung ist. Daraufhin entwickelt der jemand ein negatives Bild von sich. Isoliert sich womöglich, wenn er der Meinung ist, dass sein Symptom gesellschaftliche Ausstoßung bedeutet. Das Problem wäre dann nicht das Symptom, sondern die ungünstige Auslegung desselben.
 

Giacomo_S

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agentP schrieb:
Wenn du damit meinst, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen von Norm und Abweichung verändern, dann gebe ich dir Recht, aber den Zusammenhang mit "biologistisch" oder "verwissenschaftlichung" halte ich für ziemlich spekulativ.
Ganz "unbiologistisch" dem Schizophrenen einen Exorzismus zu verordnen war schließlich nicht weniger ausgrenzend oder wenig hilfreich.

In Peter D. Kramers Buch "Listening to Prozac" geht es nicht einmal um Patienten mit den von Dir o.g. schweren Verhaltensabweichungen.

Vielmehr handelt es sich um Menschen, die allenfalls Fälle für eine Psychotherapie sind, in manchen Fällen nicht einmal das. Nachdem sie dann mehrmals vorstellig waren, verschrieb er ihnen auf eigenen Wunsch Prozac.
Er beschreibt im Anschluss, wie diese Menschen dann im Privat- und Berufsleben smarter und erfolgreicher wurden, plötzlich nach langen Jahren einen beruflichen Aufstieg schafften. Oder vorher Fans von Pornofilmen waren und nachher nicht mehr.
Die aussage "biologistisch" stammt in diesem Zusammenhang nicht von mir, sondern von ihm.

Diese Art von Neuro-Ethik halte ich für höchst problematisch. Können wir es zulassen, das Menschen, die aus einer anderen Sicht vielleicht als völlig gesund gelten, durch eine Droge "optimiert" werden, smarter, erfolgreicher sind, weil die (amerikanische) Gesellschaft ein derart "ausgeglichenes" Verhalten honoriert ? Und nach Kramers eigenen Aussagen in einer repressiveren Kultur (Kramer: der deutschen !) gar nicht als abweichend gälten ?

Die Befürworter rechtfertigen das mit der "Freiwilligkeit" solcher Behandlungen. Nur stehen wir alle, ob wir das wollen oder nicht, im Privat-, vor allem aber im Berufsleben in Konkurrenz zu anderen. Irgendwann nehmen die Erfolgreichen (immer spezifischere, mit immer weniger Nebenwirkungen behaftete) Drogen und bleiben am Ball, und die anderen nehmen keine und werden aussortiert.

Das von Dir genannte AHDS ist ein gutes Beispiel. Ich bestreite nicht, dass es das gibt.
Was ich bestreite, ist einerseits die Verbreitung der Störung und andererseits ihre Kulturunabhängigkeit (denn eine medikamentive Behandlung legt zumindest sehr nahe, dass es sich um eine biologische Störung handelt. Und die soltte ja bei Populationen mehr oder minder gleicher Genetik in etwa gleichermaßen auftreten).

Wie kann es da sein, dass in einer deutschen Klasse zwei Kinder mit Ritalin behandelt werden und in mancher amerikanischen dann die Hälfte ?
Hat man die anderen bis zur Hälfte der Klassenstärke in D dann auch einfach nur "nicht erkannt" ?
 

agentP

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Wie kann es da sein, dass in einer deutschen Klasse zwei Kinder mit Ritalin behandelt werden und in mancher amerikanischen dann die Hälfte ?
Hat man die anderen bis zur Hälfte der Klassenstärke in D dann auch einfach nur "nicht erkannt" ?

Vielleicht hat das einen ähnlichen Hintergrund wie bei den Zahlen bezügliche leichten bis mittelschweren Depressionen. Da gibt es nämlich tolle Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Fallzahlen und den intensiven Aufklärungs- und Entstigmatisierungskampagnen seit den 80ern aufzeigen, die meist erst in den USA durchrollten, bevor sie zu uns rüberschwappten.

Das wäre nämlich ein alternatives Erklärungsmodell: früher ist man mit minder schweren psychischen Problemen eben einfach nicht zum Arzt gegangen, weil man sich damit zum Aussenseiter gemacht hätte, heute sieht man das lockerer, geht zum Arzt und landet in der Statistik. Bei Schülern kommt natürlich noch hinzu, wie die Schule damit umgeht, ob es eine sozialpädagogischen oder schulpsychologischen Dienst gibt, der so etwas anstösst. Ich habe keine Ahnung wie dich das hier und in den USA im Vergleich darstellt.

Oder es liegt einfach daran, dass man in den USA einfach mehr Erfahrung mit der Diagnose AD(H)S hat, weil man sie schon länger stellt. Soweit ich weiss kommt aber aus den USA auch gerade der Trend das "Syndrom" in AD(H)S in "Disposition" umzubenennen und damit aus der "Störung" einfach einen nicht-pathologischen "Persönlichkeitstyp" zu machen und statt auf Ritalin lieber auf "Coaching" zu setzen.

Erklärt denn Kramer auch, warum ausgerechnet jetzt der "Biologismus" solche Auswirkungen hat? Immerhin ist das ja keine neue Sicht auf psychische Störungen, sondern eigentlich die ältere Sicht. Das revolutionäre an Freuds Psychonalasye wahr ja schließlich, dass sie zum ersten mal in der Medizingeschichte einen anderen, nicht-biologistischen Ansatz dargestellt hat. Und soweit ich weiss, folgt das seitdem regelrechten (Mode-)Trends: Mal haben die Pillenverschreiber die Nase vorn, mal die Analytiker.
 

Giacomo_S

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agentP schrieb:
Erklärt denn Kramer auch, warum ausgerechnet jetzt der "Biologismus" solche Auswirkungen hat? Immerhin ist das ja keine neue Sicht auf psychische Störungen, sondern eigentlich die ältere Sicht. Das revolutionäre an Freuds Psychonalasye wahr ja schließlich, dass sie zum ersten mal in der Medizingeschichte einen anderen, nicht-biologistischen Ansatz dargestellt hat.

Kramer geht in seinem Buch in einem ganzen Abschnitt auf die historische Entstehung psychiatrischer Modellvorstellungen ein.

Schon seit Beginn der Moderne gab es parallel immer beide Sichtweisen mit Sigmund Freud auf der einen Seite und Emil Kraepelin auf der anderen. Allerdings waren die Fraktionen auch gesellschaftlich getrennt. Behandelten die Psychoanalytiker vornehmlich die Selbstzahler der Oberschicht, so fand bei Kraepelin die internierten Unterschichtler.

Die ersten Psychopharmaka wurden zufällig entdeckt. Lithium fiel durch Analysemethoden auf, Imipamin wurde zunächst gegen die Tuberkulose eingesetzt. Nachfolgende Substanzen entstanden, wie so oft, durch Modifikationen und Tests bereits bekannter Substanzen.

Die biologische Sichtweise entstand vor allem durch daraus entstandene Modellvorstellungen: Wenn eine Substanz in der Lage war, derart spezifisch auf das Gemüt einzuwirken, dann liegt es nahe anzunehmen, dass ein spezifischer Botenstoff (sein Mangel, sein Überschuss) für eine von der Norm abweichende Gemütslage verantwortlich ist.

Das ist - sehr grob vereinfacht - das auch heute noch vielgepriesene "Transmittermodell". Kramer ist allerdings ehrlich genug, auch die deutlichen Schwächen dieser Modellvorstellungen aufzuzeigen (ich gebe das hier verkürzt und aus dem Gedächtnis wieder. Bitte nagelt mich daher nicht auf Details fest):

1. Im Wesentlichen spielen zwei Neurotransmitter die Hauptrollen, Noradrenalin und Serotonin, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Beeinflussung dieser Neurotransmitter durch verschiedene Substanzen liefern, je nach Ausgangslage, oft unterschiedliche, teilweise höchst widersprüchliche Ergebnisse.
2. Die eingesetzten Substanzen werden vom Körper schnell aufgenommen und auch schnell wieder abgebaut und/oder ausgeschieden. Die Beeinflussung der Transmitter sollte demnach - wie bei vergleichbaren physdiologiusch wirksamen Substanzen (Bluthochdruck o.ä.) - zügig erfolgen.
Bei Antidepressiva ist das aber nicht der Fall. Der Behandlungserfolg tritt erst nach Wochen ein und er flaut auch erst nach längerer Zeit der Nichteinnahme wieder ab.
3. Experimente an Tieren und auch am Menschen legen nahe, dass abweichende Transmitterbefunde nicht mit einem pathologischen Befund zusammenhängen müssen, oder vielmehr nicht umgehend. Es scheint zeitlich lange - oft über Jahre - Vorläuferphasen zu geben, in denen nichts passiert und keine Störung vorliegt.
4. Es sieht so aus, dass psychlogische (traumatische) Vorfälle zu Transmitterstörungen führen. Es ist also nicht nur die Biochemie die das Verhalten verändert, sondern das Verhalten ändert auch die Biochemie. Letztlich eine Ehrenrettung der Psychoanalyse.
5. Es gibt Substanzklassen aus völlig anderen Bereichen, die - obwohl chemisch völlig unterschiedlich - sowohl auf ihre ursprüngliche Anwendung, als auch zur Behandlung von Depressionen wirken. Aus ihnen stammen vieler noch heute umfangreich eingesetzter Medikamente. Beispiele sind Antihistaminika (Ursprungszweck: Allergien) und Antiepileptika (Ursprungszweck: Epilepsie).
Gemäß des aus dem Transmittermodell abgeleiteten Grundsatzes ("One drug, one illness", Kramer), für mich ein Grund, auch einmal über eine Verbindung dieser Krankheiten zueinander nachzudenken (vielleicht hat ein Depressiver nur eine besondere Form der Allergie. Und es ginge ihm schon besser, gäbe er seine Katze zu Freunden).
 

Telepathetic

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Pillen einzuschmeißen um Probleme loszubekommen oder eben auch um erfolgreicher in Schule(?), Studium und Beruf zu sein, ist der leichte Weg. Es ist auch ein älteres Argument, das mit Medikamenten lediglich Symptome unterdrückt werden. Ist das Symptom verschwunden, so die Logik, ist die dahinterliegende Krankheit, bzw. Störung mitverschwunden.

Wie kommt es, dass manche Leute jahre-, jahrzehntelang Psychopharmaka einnehmen und sich ihr mentaler Zustand nicht zu einem besseren wandelt? Ich weiß aus meinem persönlichen Kreis von der Angst vor einer erneuten psychotischen Krise, die zur weiteren Einnahme eines Antidepressivums führt. Diese Person will dieses Psychopharmakum einnehmen, eine Gesprächspsychotherapie ist ausgeschlossen. Die Person meint aber auch, dass sie gesund sei. Ich frage mich, ob da eine Medikamenten-Abhängigkeit besteht. Der behandelnde Psychiater jedenfalls scheint nichts zu tun, als weiterzuverschreiben.

Wieso sind früher so wenig Kinder mit AD(H)S identifiziert worden? Vielleicht liegt es auch daran, dass früher die Kinder im Allgemeinen ihre Freizeit Draußen und in Bewegung verbracht haben. Die haben ihre Energien verausgabt. Heute sitzen viel mehr Kinder vor elektronischen Medien und der Erfolgsdruck Zuhause, in der Schule und im Beruf ist erheblich größer geworden.

Robert Whitaker schreibt davon, dass sich die Neurotransmitter an die Psychopharmaka anpassen und das Rückfälle bei zu abruptem Weglassen passieren, weil dem Gehirn der gewohnte Stoff fehlt.

R.D. Laing hatte die Psychiatrie dafür kritisiert mit ihrem Fachjargon und der Klassifizierung von Krankheiten die realen Leiden des Patienten zu übersehen. Die Existenz des Patienten sei auf seine Symptomatik reduziert. Was ist, wenn der Patient sich selbst auf seine Symptomatik reduziert?

Allerdings scheint sich die moderne Psychiatrie über all das längst bewußt zu sein. Zumindest in der Theorie. Andererseits: was soll ein Psychiater tun, wenn ein Patient auftaucht, der eindeutig schwerst unter einer psychischen Störung leidet? Ihn wegschicken oder versuchen seine akuten Leiden zu lindern?

Das Problem scheint eher zu sein, die Linie zwischen ungestört und gestört zu bestimmen. Denn das psychische Leid ist höchst subjektiv. Es existiert die Ansicht, dass jeder Mensch hier und da einmal wahnsinnig ist. Das ist dann objektiv nicht einmal als krankheitswertig einstufbar. Genauso tauchen bestimmte Symptome auf bei Schlafentzug oder weil man nichts gegessen hat. Oder weil der Trip mal wieder ziemlich heftig ist.

Menschen können sich gegenseitig verrückt machen. Die Zunahme heutiger negativer Befindlichkeiten haben vllt. auch mit dem ewig Negativen in den informierenden Medien zu tun. Nur Schlechtes. Seit wieviel Jahren geht die Welt schon unter? Seit 9/11 sind bereits über zehn Jahre vergangen. Seitdem haben wir eine immer stärker werdende Hysterie wegen der Terrorgefahr erlebt. Mehr Überwachung. Mehr Angst.

Vielleicht hat die große Depressionswelle und die abflauende Motivation in den jüngeren Generationen auch mit dem Gefühl einer nahenden Apokalypse zu tun? Warum überhaupt noch großartig in die Zukunft 'investieren' wenn doch eh alles bereits verloren ist? Wenn doch bereits die Geburt über Erfolg und Mißerfolg entscheidet. Früher ist der Stand der Sterne maßgeblich gewesen für die eigene Bestimmung, heute ist es der soziale Stand. Wissenschaftlich bestätigt, weil blöderweise ein paar Studien Entsprechendes belegt haben. An der Stelle mag Wissenschaft dazu beitragen momentane Verhältnisse zu zementieren.

Im Würgegriff eines allwissenden Wissenschaftsstaats. Studien haben belegt. Während des Zivildienstlehrganges haben uns die Lehrer weismachen wollen, dass jemand, dessen Mund offen steht offen sei und das Gegenteil davon. Ach ja, und dass man literweise Wasser trinken soll. Kritik haben die übrigens auch gleich abgeschmettert.

Ich kann die Kritik an der Wissenschaftsgläubigkeit gut verstehen. Im Versuch das Normalverhalten eines Menschen zu bestimmen, liegt bereits die Möglichkeit, die Blaupause für einen Durchschnittsmenschen erschaffen zu wollen. Abweichungen von diesem Verhalten fallen sofort auf und müssen korrigiert werden. Damit alles schön durchschnittlich und gerecht bleibt. Und wenn der Mensch sich nicht zu seinem normalen durchschnittlichen Denken und Verhalten erziehen lässt, dann wird er für gestört erklärt und Pillen sollen es richten.
 

agentP

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Menschen können sich gegenseitig verrückt machen.
Ja, das nennt man dann "sozialpsychiatrischer Ansatz" und wird aktuell sehr heiß diskutiert in der wissenschaftlichen Psychiatrie.
Genauso wie der Gegensatz bzw. das vernünftige Zusammenspiel zwischen psychotherapeutischen Ansatz und "biologistischem" Ansatz dort wissenschaftlich diskutiert wird. Der von Giacomo genannte Peter D. Kramer ist ebenfalls Wissenschaftler. Insofern kann ich diese pauschale Wissenschaftskritik eben nicht verstehen.
Das Buch von Kramer ist übrigens fast 20 Jahre alt und ich denke in Anbetracht dessen, wie schnelllebig bestimmte therapeutische Trends in der Psychiatrie sind (ich sag nur: Rennaissance der Elektroschock-Therapie in den letzten Jahren, o.g. Sozialpsychologie, etc.) sollte man die Erkenntnisse von damals vielleicht auch nicht unbedingt auf heute übertragen.


Schon seit Beginn der Moderne gab es parallel immer beide Sichtweisen mit Sigmund Freud auf der einen Seite und Emil Kraepelin auf der anderen.

Wenn das schon immer so ist, warum schreibst du dann oben
dass eine wissenschaftliche Gesellschaft, die den Menschen zusehend biologistisch einschätzt

Das das immer mehr zunimmt kann ich übrigens nicht nachvollziehen, denn bei diversen Krankheiten wie z.B. Depression ist man doch mittlerweile meilenweit weg von einer reinen medikamentösen Therapie, sondern setzt auf eine Kombinationstherapie, wobei die Medikamente vor allem die akute Phase überbrücken und den Patienten "therapiefähig" im Sinne einer Psychotherapie machen sollen. Zumindest wurde das bei allen Fällen in meinem Bekanntenkreis so gehandhabt, wobei da jetzt keine schwere bipolare Störung dabei war. Da mag es dann anders aussehen.
 

Telepathetic

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Meine kurz und knappe Wissenschaftskritik ist einseitig, aber sie soll auf die Schattenseite des wissenschaftlichen Betriebes hinweisen. Z.B. auf die Gefahr das momentane Verhältnisse verallgemeinert werden und als feststehende Wahrheit verkauft werden. Wobei Pseudo-Wissenschaft wohl das passendere Wort ist. Jedenfalls ist auch die Wissenschaft nur so gut oder so ehrlich wie diejenigen, die sie betreiben. (Dasselbe gilt auch für Therapeuten). Und das Statistiken frisiert werden können, das bereits die Fragestellung(en), bzw. die vorgegebenen Antworten in einer Befragung in eine bestimmte Richtung weisen und das Statistiken benutzt werden, um einen ganz bestimmten Punkt zu beweisen, ist nicht von mir erfunden.

Die häufig wechselnden Trends zeigen mir, dass es keinen Königsweg in der Therapie gibt. Es heißt ja auch, dass keine Störung wie die andere ist. Eine Art Rahmen lässt sich ausmachen, in dem sich Störungsbilder ähneln, aber ansonsten gleicht eine Therapie wohl eher einer Detektivarbeit. Der Therapeut hat eben nicht viel zum Greifen. Eine psychische Wunde ist nicht wie ein Knochenbruch.

Die Ansichten von Laing finde ich interessant, weil er die Sache nicht biologistisch angegangen ist, sondern existentialistisch. Ihm ging es nicht darum, einen bestimmten körperlichen Zustand herzustellen, er beschäftigte sich mit dem Inhalt der Psychose. Er hat herausgefunden, dass die in einer Psychose ausgesprochenen Worte und Sätze Sinn machen, wenn auch nicht unbedingt für einen Fremden. Laing hielt die akute Psychose sogar nützlich für die Therapie, weil mit ihr traumatische Themen an die Oberfläche kommen. Solche Gedanken können auch einer betroffenen Person Verständnismöglichkeiten bieten und ebenso bei der Wahl eines Therapeuten helfen.

Der Unterschied, will mir scheinen, ist, dass der eine Ansatz die Symptomatik beseitigen will, während der andere Ansatz versucht die inneren Ressourcen des Patienten anzukurbeln. Beide Ansätze haben ihre Vorteile und ihre Grenzen.
 

Semiramis

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Und im Grunde ist das alles zu theoretisch für die praktischen Einzelfälle, oder?
Es ist alles Chemie, alle Prozesse, die in uns ablaufen, naheliegenderweise kann man dann mit Zufügen chemischer Substanzen gewisse Veränderungen bewirken im Gemütszustand. Aber unser chemischer Aufbau ist ständig in Veränderung (ein ja zu dem Modell der Beeinflussung chemischer Prozesse durch Erkenntnis), und gerade gemütsmäßige Auffälligkeiten und solche der Realitätswahrnehmung sind noch viel weniger als alles andere einem klaren Fehlen eines bestimmten Stoffes zuzuschreiben; das macht die Behandlung mit Medikamenten so schwierig. Im Grunde werden im Einzelfall akuter depression oder anderer Gemütsstörungen (und das ist alles, was Menschen davon abhält, ein selbstbestimmtes glückliches Leben zu führen) - m.W., aber korrigiert mich, wenn ihr das anders kennt - Substanzen durchgetestet, bis etwas dabei ist, das wirkt... so wenig wissen wir im Grunde über die Wirkungen der Substanzen auf das Gesamtsystem...
Nebenbei dazu, dass Medikamente gegen Epilepsie oder Allergien gegen Depressionen eingesetzt werden: Wir sind so weit vom Verstehen der genauen chemischen Prozesse entfernt, und eine zugefügte Substanz wirkt nicht nur an einer einzigen Stelle, gleicht eher einem Breitbandhammer mit verschiedenen Auswirkungen an verschiedensten Stellen - das scheint mir eher der Grund dafür, dass sich solche Medikamente mit Erfolg (und m.W. werden sie gerade auch dann "durchprobiert", wenn die klassischen nichts bringen...) gegen Depressionen einsetzen lassen - dass man da einen (stärkeren) Zusammenhang zwischen Allergien und Depressionen ableiten könnte, erscheint mir sehr weit hergeholt.

Was ist der biologistische Ansatz? Es ist völlig einzelfall-abhängig (und auch sehr von einer schwierig klar messbaren Schwere abhängig), ob in einer akuten Phase "alle Schotten dicht" sind und man therapeutisch keinen Zugang mehr hätte und eher ein stabilisieren nothwendig erscheint, bevor man in eine konkrete Aufarbeitung mündet - oder ob das gerade die Phase ist, in der thearpeutische Unterstützung der eigenen Verarbeitung (mehr ist es im Grunde nicht, scheint mir) möglich und sinnvoll wäre. Manche Traumata oder Verarbeitungsdefizite können so tief reichen, dass eine Aufarbeitung an keinem Punkt mehr möglich erscheint und die Gemütsstörungen vielmehr als Versuch des individuellen Gehirnes aussehen, sich vor dem völligen Zusammenbruch zu retten und sich auf einer vielleicht realitätsfernen Ebene überhaupt noch zu stabilisieren... Die schwere Psychotherapie ist ein weites Feld ...

Und eigentlich hat das alles nichts mit dem Umstand zu tun, dass Menschen in unseren Gesellschaften teilweise genötigt werden, besser zu funktionieren (Ritalin) oder sich selbst mit Substanzhilfe anpassen wollen (Amphetamine z.B.). Vielleicht ist das eher ein Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der durch Maschinisierung und Optimierung zunehmend weniger Platz ist arbeitsmäßig für Menschen geringerer Intelligenz oder Leistungsfähigkeit?!

Die viel zu schwarz-weiße Unterscheidung zwischen krank und gesund, nebenbei, ist selbst für körperliche Krankheiten oft unzureichend - eher zwei Pole, zwischen denen sich das ganze der Möglichkeiten ausbreitet...
 

Telepathetic

Großmeister
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Vielleicht ist das eher ein Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der durch Maschinisierung und Optimierung zunehmend weniger Platz ist arbeitsmäßig für Menschen geringerer Intelligenz oder Leistungsfähigkeit?!
Und nicht nur das. Auch die Menschen mit höherer Intelligenz oder Leistungsfähigkeit sehen sich mit einem erbarmungslosen Aussiebe-System konfrontiert. Der gläserne Angestellte im Mahlstrom seiner Daten. Das Menschliche zählt eben nicht. Nur Leistung zählt. Da ist der Deutsche ja vorne dran. Schaffen bis zum Umfallen. Und wenn du einer bist, der den hohen Ansprüchen nicht genügt, dann hast du Pech gehabt. Und noch was: es ist eine Schande, dass Medikamente und Psychotherapie das gerade biegen sollen, was diese inhumane Gesellschaft verbiegt. Schlimmer noch: Therapie soll Menschen dahin biegen, wo sie nach herrschender Meinung hingehören: auf absolut uninspirierende, kräfteverzehrende Arbeitsplätze. Na, wunderbar auf den Punkt gebracht, eh.
 

Goatboy

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Meine Fresse, Leute, ich wollte mich hier wirklich nicht einmischen, aber dieses Gejammere, heute sei ja alles ach so hart und nichts menschlich und nur Leistung und bis zum Zusammenbruch und bla, bla, bla, während man vormittags unter der Woche die Zeit hat, gemütlich an seinem Rechner zu sitzen und Foreneinträge zu verfassen, meint ihr nicht, das ist albernes Rumgeheule? Klar, früher war alles viel einfacher. Im neunzehnten Jahrhundert saßen alle nur auf der Veranda, sonnten sich und tranken Limonade.

Die Arbeitsbedingungen waren schwer und es herrschte strenge Arbeitsdisziplin. Arbeiter die aufbegehrten oder arbeitsunfähig waren, konnten mangels wirksamer Arbeitsmarktgesetzgebung durch neue Landflüchtlinge ersetzt werden. In englischen Industriestädten betrug die durchschnittliche Lebensarbeitszeit bis zur „Arbeitsunfähigkeit“ etwa 15 Jahre. Das Durchschnittsalter der Industriearbeiter in Manchester lag bei nur 18 Jahren. Der Arbeitslohn konnte bei zehnminütigem Zuspätkommen um einen halben Tageslohn gekürzt werden. Ebenso konnten bei fehlerhafter Arbeitsleistung oder Werkzeugbruch Lohnabzug verhängt werden. Üblich waren auch Verlängerung der täglichen Arbeitszeit (bis zu 18 Stunden), keine Sonntagsruhe, unzureichender oder fehlender Arbeitsschutz (Transmissionsbänder der Dampfmaschinen waren eine große Gefahrenquelle). Es gab auch keine Altersversorgung, Unfallversicherung oder Schutz gegen Willkür durch Vorgesetzte, wie z. B. Kündigungsschutz.

Der Gesetzgeber kannte zu dieser Zeit keine oder kaum regulierende ordnungspolitische Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt (s. a. Manchesterkapitalismus). Polizei und Militär dienten innenpolitisch primär der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Armenemeuten und Hungerdemonstrationen wurden oft brutal niedergeschlagen und führten zu Verletzten, Toten sowie Inhaftierungen und auch Hinrichtungen der Anführer.

Die Arbeiter verdienten oftmals zu wenig, um ihre Familie zu ernähren. So mussten vor allem in (noch herkömmlich) kinderreichen Familien auch Frauen und Kinder Lohnarbeiten annehmen. Frauen arbeiteten in Heimarbeit, anstatt wie früher im Verlagssystem, sowie in der bedeutenden Textilindustrie. Frauen waren bei Arbeitgebern sehr beliebt, da sie feinmechanisch kundiger und psychisch sehr belastbar waren und somit auch intensiver und länger arbeiten konnten; vor allem aber waren sie billiger, da ihr Lohn deutlich unter dem der männlichen Arbeiter lag.

Die Kinderarbeit gibt es in der ländlichen Familienwirtschaft seit Menschengedenken, aber mit der Industrialisierung nahm sie im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und den USA Ausmaße an, die die Gesundheit und Bildung der Arbeiterkinder massiv beeinträchtigte. Kinder wurden auch im Untertagebau eingesetzt, da sie kleiner waren und deswegen bei schmalen Flözen im Streb und engen Stollen Kohle oder Erz effektiver als Erwachsene hereingewinnen konnten. In England arbeiteten Kinder im Sommer bis zu 64 und im Winter 52 Stunden in der Woche unter Tage. In Webereien (Cotton Mills) waren sogar 80 Stunden pro Woche üblich.

http://de.wikipedia.org/wiki/Soziale_Frage#Arbeitsbedingungen
Aber nein, brutal ist es heute! Diese unmenschliche 38,5-Stunden-Woche, freie Wochenenden, bezahlte Urlaube und Feiertage, dazu Kündigungsschutz, Betriebsräte, Gewerkschaften, Streikrecht, Unfall- und Rentenversicherung, bezahlte Krankentage, und dann nimmt sich der Arbeitgeber auch noch heraus, die Hälfte der Krankenversicherung zu zahlen! Hört die Ausbeutung denn niemals auf?
 

agentP

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O.K. Früher war alles Scheisse und heute ist alles super.
Und jetzt zurück zum Thema "Psychiatrie".

Und noch was: es ist eine Schande, dass Medikamente und Psychotherapie das gerade biegen sollen, was diese inhumane Gesellschaft verbiegt.

Früher wurde imho nicht "gerade gebogen" sondern weggesperrt. Da könnten Medikamente und Psychotherapie auch ein echter Fortschritt sein, oder?
 

Semiramis

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Ich denke, so weit sind wir von dem Thema der Psychiatrie gar nicht entfernt.
Mir erscheinen das zur Sprache Gekommene verschiedene Dinge zu sein:
1. tatsächliche Überforderung (ohne mir bisher bekannte Lösung)
Zustimmung zu dem von goatboy Geschriebenem: Natürlich sind die Arbeitsbedingungen heute weit besser als in früheren Zeiten, und heute sterben keine Menschenmassen mehr auf der Strasse, die arbeitsunfähig sind. Und dennoch - auch wenn mich das Gejammere bisweilen ebenso nervt, dass heute alles viel schlimmer als je zu vor wäre - man sollte das nicht vergleichen, man kann es gar nicht, denke ich: Was ich meine, man sollte schlimmere Zustände in vergangenen Zeiten auch nicht dafür benützen, alles zu rechtfertigen, was heute so geschieht! Ich bin überzeugt, dass die meisten psychischen Erkrankungen einerseits und andererseits auch (davon zu trennende) Dinge wie Arbeitsüberlastung (burn-out) und Überforderung gleichermaßen in früheren Zeiten vorhanden waren - nur die besseren Umstände heutzutage geben uns überhaupt Zeit, uns mit ihnen zu beschäftigen - soll heißen, ich glaube, dass es das früher genauso gab - wir haben nur die Zeit gewonnen, es allgemeingesellschaftlich mehr wahrzunehmen.
(Etwas völlig anderes nebenbei sind m.E. die sogenannten "Wohlstandskrankheiten", unter die man doch imho eigentlich nur das summieren sollte, was infolge von Wohlstand an Krankheiten neu (oder wieder) aufgetaucht ist: Krankheiten resultierend aus zu reichlicher Ernährung, zu wenig Bewegung etc.)

Aber vielleicht gibt es tatsächlich mehr gerade von den letzteren psychischen Erscheinungen (burn-out, Stress, Angstgefühle) - die ich von schweren psychischen Krankheiten auf das entschiedenste zunächst mal trennen möchte, auch wenn ich weiß, dass diese beiden Felder ineinander durchlässig sind. Ohne einen unsäglichen Vergleich mit einem (immer auch nur idealtypischen) "früher" heranziehen zu wollen: Ich finde ist es sehr deutlich, dass der technologische Stand unserer modernen Gesellschaften gerade Arbeiten am unteren Ende immer mehr durch MAschinen ersetzt - eine Entwicklung, die auch schon seit einigen Jahren, Jahrhunderten kann man fast sagen, existiert. Parallel dazu sind die Menschen schon im Durchschnitt gebildeter geworden, was Zugang zu Büchern, Medien und allgemein die Herausforderungen des Alltages (immer neue Maschinen im Haushalt z.B.) mit sich gebracht haben. Aber hier gibt es schon eine Grenze, die Menschen unterscheiden sich in ihren Eigenschaften, zu denen individuell Intelligenz und Leistungsfähigkeit in besonderem Maße gehören, und die sich nicht wirklich grundlegend nachträglich verändern lassen. Zusammengefasst: Früher war nicht alles besser, im Gegentheil - aber vielleicht kann man sagen, dass die intellektuellen Herausforderungen in der Tat gestiegen sind im allgemeinen, und dies manche Menschen schon an ihre Grenzen treiben kann. Überforderung ist heutzutage sicher kein körperliches Problem mehr, eher eines von intelligibler und dadurch psychologischer Überforderung.
Dass man öfters hört, die Gesellschaft wäre inhuman und ähnliches, ist eigentlich ein Symptom, an dem man das imho schön sehen kann: Eine Projektion des eigenen Ohnmachtgefühles auf eine Abstrakte Größe ("die Gesellschaft"), die als das bedrohlich empfundene Andere konstruiert wird. Konstruiert, weil natürlich im Grunde die Gesellschaft nichts anderes ist als wir alle, auch der, der sich in Antagonismus zur Gesellschaft setzt, und Gesellschaft nicht außerhalb der Menschen existiert, die sie erschaffen. Die Wahrnehmung von Gesellschaft hängt dabei sehr mit der Wahrnehmung der eigenen Position zusammen - logischerweise: der Mensch als Gesellschaftstier definiert seine eigene Position grundsätzlich u.a. im Vergleich mit der Gesellschaft aller Menschen.
Psychische Überforderung sehe ich allerdings tatsächlich als Problem an, und eines, das immer größer wird, je weiter die allgemeine Entwicklung voranschreitet. Auch die Existenzängste und Stress (resultierend aus dem Gefühl, irgendwann nicht mehr mithalten zu können) mögen skuril erscheinen, wenn man sie mit Existenzbedrohlichen Zuständen in vergangenen Zeiten vergleicht, aber Äpfel und Birnen vergleicht man imho dabei, halte ich die körperlichen Existenzängste von Zeiten des Ums-Überleben-Kämpfen und psychische Existenzängste für auf verschiedenen Ebenen liegend und dort jeweils für sich für gleichermaßen ernstzunehmen.
Ich fürchte, viele dieser Menschen, auf die dies zutrifft, landen heutzutage bei Gesprächstherapien, werden mit Medikamenten behandelt oder versuchen durch Selbstmedikation eine Leistungssteigerung und bessere Anpassung an gesellschaftliche Gegebenheiten zu erreichen, bzw. sich über die eigenen Grenzen hinaus auf eine bessere Position zu schieben. Das sind aber ganz verschiedenste Fälle, und eine Pauschallösung steht dafür nciht bereit, auch weil, wie oben bemerkt, m.E. durchaus etwas reales - größere Anforderungen - dahintersteht, letztlich.
Was denkt ihr?

2. Ohnmachtsgefühl und Überforderung aufgrund unvortheilhafter Wahrnehmung der Gesellschaft (ohne tatsächliches Problem und durch Veränderung der Einstellung verbesserbar)
Momentan sehe ich nicht, wie sich das verbinden lässt (und ob) damit, dass etwas "Inhumanes" an der Gesellschaft schuld daran sein soll, dass sich manche Menschen mit einem Ohnmachtsgefühl und psychischem Druck konfrontiert sehen. Ohnmachtsgefühl resultiert mindestens auch zur Hälfte in den natürlicherweise enttäuschten eigenen Erwartungen an einen selbst, an einem Punkt stehen zu wollen, den man selbst körperlich/intellegibel nicht leisten kann - eine Konstruktion aus Selbstüberforderung, und noch schlimmer, wenn das eigene Selbstwertgefühl an den zu hohen Erwartungen angehängt ist.
An dieser Stelle kann man aber einige Verbesserung erreichen für die Betroffenden, wenn man mit ihnen im Gespräch neue Lebensentwürfe und ein Zurückschrauben der eigenen Erwartungen entwickelt und erreicht.In solchen Fällen wäre die Gabe von Medikamenten dann überflüssig, aber natürlich stehen auch hier hinter der Theorie die Einzelfälle...

Hm, das alles ist ein schwieriges Feld, und ich bin jetzt schon dankbar für diese Diskussion, die mich sehr zum Nachdenken angeregt hat, bisher. (und ich hoffe, ich bin an dem eigentlichen Thema gerade nicht so ganz vorbeigeschossen :schaem: )
Wie seht ihr das alles?
 

agentP

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Im Kern inhaltlich stimme ich goatboy auch zu. Das hatte ich ja im Laufe der Diskussion auch schon anklingen lassen. Die unkonstruktive, herablassende und respektlose Form in der der Einwand eingebracht wird muss aber nun mal gar nicht ein.

Ich bin überzeugt, dass die meisten psychischen Erkrankungen einerseits und andererseits auch (davon zu trennende) Dinge wie Arbeitsüberlastung (burn-out) und Überforderung gleichermaßen in früheren Zeiten vorhanden waren - nur die besseren Umstände heutzutage geben uns überhaupt Zeit, uns mit ihnen zu beschäftigen - soll heißen, ich glaube, dass es das früher genauso gab - wir haben nur die Zeit gewonnen, es allgemeingesellschaftlich mehr wahrzunehmen.

Das sehe ich ganz ähnlich. Und gerade deswegen ist es bestenfalls sinnvoll einzelne Aspekte herauszuziehen und zu vergleichen, also meinetwegen, wie wurde früher mit Arbeitsüberlastung umgegangen (persönlich und vom Umfeld), welche Konsequenzen hatte so eine Überlastung, usw. Vielleicht würde man dann vor allem feststellen, dass manche Voraussetzungen früher günstiger waren (nur z.B. stärker Rückhalt durch Familienverband) und andere ungünstiger (höheres Risiko den Job zu verlieren wg. fehlenden arbeitsrechtlichen Bedingungen).
Ich bezweifle einfach, dass bei einem so komplexen Gebilde wie der menschlichen Psyche einfache Erklärungen in die eine oder andere Richtung Sinn machen und zwar weder die "die böse, amerikanisierte, kapitalistische, kalte, biologistische, wissenschaftsgetriebene Welt von heute ist schuld-Theorie" noch die "euch geht´s so gut wie nie, ihr seid nur Jammerlappen-Theorie".
Oder andersrum: Die Gesellschaft in der wir leben ändert sich und damit auch die Voraussetzungen und damit auch die Folgen. Das gilt sicher auch für unsere Psyche. Nur diese Veränderung ist ja per se erstmal weder gut noch schlecht.
 

Telepathetic

Großmeister
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Ich kann euch allen grundsätzlich zustimmen.

"Gejammer" halte ich allerdings nicht für schlecht, da kommt wenigstens zutage was einen stört. Da das Gejammer von Vielen angestimmt wird, ist es nicht einem Einzelschicksal zuzuschreiben, sondern beschreibt ein gesellschaftliches Phänomen. Zuviel und ständiges Rumnölen nervt mich allerdings auch, deswegen höre ich mir auch kaum noch zu. :lol:

Klar, früher gab es Härten, die uns Heutigen als wirklich schlimm erscheinen. Dafür dürfte es heute Härten geben, die den Damaligen als schlimm erscheinen würden.

Was gegen eine Aufrechnung verschiedener Epochen spricht, ist der zeitliche Charakter, soll heißen eine Epoche baut auf eine andere auf. Ich gehe davon aus, dass Menschen immer bestrebt sind, ihre Zeit zu verbessern. Manche dieser Bemühungen funktionieren, andere Entwicklungen erweisen sich als katastrophal. So gesehen gibt es kein reines 'der Fortschritt macht alles besser'.

Wichtig festzuhalten ist, finde ich, zuallererst das 'Etwas' nicht stimmt. Was das ist, muß jede/r selbst rausfinden und idealerweise können, ganz allgemein gesagt, andere Menschen einem dabei behilflich sein. Und wenn jemand zum Schluß kommt, ein Medikament auszuprobieren, um das eigene belastende Empfinden zu beheben, so ist das die Entscheidung dieser Person. Und für diese Person vllt auch der Durchbruch zu dem, was sich diese Person erhofft.

Ich halte das Aussprechen der Projektion der eigenen Hilflosigkeit auf eine andere Gruppe für den Versuch die Situation zu verändern. Geklärt werden müßte dann wieviel Anteil dieser Projektion tatsächlich Projektion ist und wieviel davon aus realen Erlebnissen entspringt. 'Die Gesellschaft' kann z.B. die Nachbarschaft sein, die Familie, der Wohnort, die Kirchengemeinde, die Regierung, Chef und Kollegen, der Kindergarten usw.

Ich kann mir aber auch vorstellen, dass ungenaue Anwendung von Sprache und oberflächliche Behandlung eines persönlichen Themas mit Projektion verwechselt werden kann. Nachdem also die eigene emotional gefärbte Wahrnehmung ausgesprochen ist, tut eine ausführliche Analyse not, um zu einer Entscheidung kommen zu können. Meiner Meinung nach dient Gesprächspsychotherapie allein diesem Zweck. Vertiefung von Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung, um mehr Raum für Eigeninitiative zu ergreifen. Empowerment.

Das Medikamente im obigen Sinne 'ermächtigen' können, bezweifle ich. Aber sie können eine chemische Krücke sein. Die einzigen zwei Gründe, die ich gegen die Verwendung von Psychopharmaka vorbringen kann, sind a) mögliche Nebenwirkungen und b) Abhängigkeit.
 

agentP

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Die einzigen zwei Gründe, die ich gegen die Verwendung von Psychopharmaka vorbringen kann, sind a) mögliche Nebenwirkungen und b) Abhängigkeit.

Was Leute anbelangt, die noch solche Entscheidungen treffen können, sollten sie selber diese Entscheidung treffen und für sich priorisieren ob ein eventuelles plus an Lebensqualität die Nachteile wert ist oder nicht. Bei Leuten, die das nicht mehr können, da wird es kompliziert.
 

Goatboy

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Telepathetic schrieb:
Was gegen eine Aufrechnung verschiedener Epochen spricht, ist der zeitliche Charakter, soll heißen eine Epoche baut auf eine andere auf.
Genau das ist ja meine Aussage, nur ziehen wir anscheinend unterschiedliche Schlüsse. Man muss darauf achten, wie man die Kritik an der heutigen Realität formuliert. Und hier lese ich, sowohl in diesem Forum als auch woanders, sehr häufig Formulierungen wie "immer höhere Belastung", "immer mehr Stress", "zunehmend weniger Platz [...] für Menschen geringerer Intelligenz oder Leistungsfähigkeit". Doch eben wenn man berücksichtigt, dass eine Epoche auf die vorherige aufbaut, muss man doch die Dynamik betrachten. Und diese ist nun einmal objektiv so, dass die Arbeitszeiten in Deutschland in den letzten rund 100 bis 140 Jahren nahezu linear gesunken sind, sich gleichzeitig die Arbeitsbedingungen verbessert haben, die Arbeitnehmerrechte massiv gestärkt wurden UND bei weniger und leichterer Arbeit der Lebensstandard geradezu explodiert ist. Klingt nach keiner so schlechten Entwicklung, oder? Wenn wir also die zeitliche Achse betrachten, bessern sich die Verhältnisse ständig.

Womit können wir die Situation noch vergleichen, wenn nicht mit der Vergangenheit? Na, mit anderen Ländern. Und hier muss man konstatieren, dass sich die Deutschen im internationalen Vergleich auch nicht gerade kaputt machen. Nach Daten der OECD liegt die durchschnittliche Arbeitszeit Nicht-Selbständiger in Südkorea pro Jahr um 75% (!) höher als in Deutschland. Es ist kein Geheimnis, dass in ostasiatischen Ländern der Leistungsdruck schon in der Schule und an der Uni erheblich ist. Das hat einerseits zur Folge, dass Schüler und Studenten dieser Länder bei Vergleichen weltweit an der Spitze liegen, es ist aber auch bekannt, dass die Selbstmordrate der Betroffenen überdurchschnittlich hoch ist. Wo stehen wir, wenn wir uns mit ihnen vergleichen? In Japan bekommt ein Arbeitnehmer weit weniger Urlaub als hierzulande und gleichzeitig ist es dort üblich, nicht den gesamten Urlaub, der einem zusteht, zu beanspruchen, denn was sollen schließlich die Kollegen von einem denken! Auch dort, das dürfte nicht überraschen, sind die Arbeitszeiten deutlich höher als in Deutschland. So wie auch in den USA, in Polen, Tschechien und anderen osteuropäischen Ländern. Wenn wir uns die räumliche Achse ansehen, stehen die Arbeitenden in Deutschland also auch ziemlich komfortabel da.

Natürlich gibt es immer Spielraum für noch weiter gehende Verbesserungen. Aber erstens kommt man irgendwo an eine Grenze zwischen Freizeitanspruch und erwirtschaftetem Lebensstandard (wie weit wir von dieser Grenze entfernt sind, weiß ich nicht, aber die anhaltende Problematik des Sozialstaats könnte einen Hinweis geben). Und zweitens kann man Forderungen nach einer weiteren Optimierung des Arbeitslebens auch anders formulieren als indem man sich larmoyant in die Opferrolle begibt und einfach postuliert, es sei ja alles so schrecklich, wir seien ja alle so arm dran. Denn damit tut man sowohl der Geschichte als auch der heutigen Welt Unrecht.
 

Telepathetic

Großmeister
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Goatboy schrieb:
Klingt nach keiner so schlechten Entwicklung, oder? Wenn wir also die zeitliche Achse betrachten, bessern sich die Verhältnisse ständig.
Jein zu beiden Sätzen. Denn die nicht so schlechte Entwicklung lässt auch Millionen Menschen ohne Arbeit sein und hat ihnen vorher Haus und Hof genommen. Der daraus entstandene Mix aus materiellem Verlust, sozialem Abstieg und dem Eindruck im juristischen und im moralischen Sinne ungerecht behandelt worden zu sein, dürfte so ziemlich jedem schwer fallen. Ich nehme an, aus der Ecke kommen eine Menge Patienten mit Depression. Interessanterweise kommen aber auch aus der Ecke der materiell Verwöhnten und der Erfolgreichen Patienten für Therapeuten. Das wäre dann ein Hinweis darauf, dass es nicht an den Umständen auf dem Arbeitsmarkt oder an der ungleichmäßigen Verteilung von Arm und Reich, sondern an etwas anderem. In der Zeitung habe ich gestern gelesen, dass es erwiesen sei, dass Wohlstand ab einem gewissen Punkt seiner Vermehrung, die allgemeine Zufriedenheit nicht mehr steigert. Was nun konkret zufrieden macht, muß wohl jede/r selbst herausfinden. Forscher aus allen Richtungen seien sich aber einig darüber, dass gelungene soziale Beziehungen der Schlüssel sind. (aus dem Artikel "Kann man Glück lernen?", ZEIT No. 1, 29.12.2011).

Du hast schon recht, die Arbeits- und Urlaubszeiten sind in Deutschland paradiesisch. Die 38 Stunden-Durchschnittswoche findet sich aber auch nicht in allen Branchen. Das Renteneintrittsalter wird angehoben, da würde es mich nicht wundern, wenn nicht auch die Wochenarbeitszeiten sukzessive erhöht würden.

Die Verhältnisse in Deutschland mögen ja im internationalen Vergleich noch recht günstig erscheinen, aber das ändert nichts daran, dass sich sehr viele Menschen in irgendeiner Form schlecht fühlen. Und zweitens kann man Forderungen nach einer weiteren Optimierung des Arbeitslebens auch anders formulieren als indem man sich larmoyant in die Opferrolle begibt und einfach postuliert, es sei ja alles so schrecklich, wir seien ja alle so arm dran. Denn damit tut man sowohl der Geschichte als auch der heutigen Welt Unrecht.
Ich begebe mich gar nicht in die Opferrolle. Oder begibst Du Dich in die Opferrolle wenn Du Mißstände aufzeigst? Vermutlich nicht. Außerdem fühlt sich eine Tirade einfach gut an. Kommt direkt von der Seele. Was man daraus macht, steht dann auf einem anderen Platt, äh, Blatt.

Die Annahme einer Projektion muß nicht falsch sein, aber sie kann eben auch einseitig sein. Sie lässt aus, dass Menschen in dysfunktionalen Beziehungen stecken können. Kindesmißbrauch, Gewalt gegenüber der Ehefrau, Lebenspartnerin und umgekehrt machen einfach krank.

Dasselbe gilt auch für Beziehungen am Arbeitsplatz. Heute wird aus verstärktem Konkurrenzkampf heraus mehr gemobbt als früher. Da bleibt von dem 38-Stunden-Paradies nicht mehr so viel über.

Psychische Störungen werden in der Psychiatrie als multifaktoriell bedingt angesehen. Womöglich ist die geringe Arbeitszeit in Deutschland eine der Faktoren, die nicht krank machen.

Fakt ist jedenfalls, dass es einige Mißstände in der Bundesrepublik, in Europa und in der Welt gibt und dass die Menschen darauf in der einen oder anderen Weise reagieren.

Um zur biologistischen Psychiatrie zurückzukommen: nehmen wir mal an, dass der chemisch-biologische Weg, der Weg, der die Wurzel der Störungen im Gehirn vermutet, ein richtiger ist. Dann lässt sich auch vermuten, dass durch Einnahme bestimmter Substanzen die Gehirnfunktionen auf eine Weise beeinträchtigt werden, dass der zum Gehirn gehörende Mensch :)gruebel:) krank wird. Drogen fallen mir zuerst ein. Was ist mit künstlichen Zutaten in Nahrungsmitteln. Was ist mit all den E-Zusatzstoffen z.B.? Da waren doch welche dabei die Krebs erregen. In welchen Nahrungsmitteln steckt keine Chemie drin? Was ist mit dem Zeugs, das in Zigaretten steckt? Angeblich sei das Nikotin noch das Gesündeste an der fabriziell hergestellten Filterkippe.
 

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