Ach, Gestreift, ich glaube wir denken ungefähr in dieselbe Richtung.
"Wenn ich Sie jetzt fragen würde, wo wir hinfahren, gäben Sie mir doch keine Antwort, richtig?" "Ja." "Dieser Schlüssel, von dem Sie mir erzählt haben, der Ihnen das Schloss öffnen soll... Hat er mit dem EVO zu tun?" "Meine gute Lucille, du wirst Antworten finden. In deinem Leben, in deinem Jetzt und in deinem Ich. Du wirst sie bald finden, und du wirst Antworten bekommen zu Fragen, an die zu denken du nie gewagt hättest. Aber noch nicht. Entspanne dich während dieser Fahrt, sammle deine Kräfte."
Für Lucille war ihre eigene Welt untergegangen. Obwohl dieser Mann, der neben ihr saß, unendliche Weisheit und Güte ausdrückte, obwohl aus ihm die Ruhe und das Wissen strahlten, war sie doch so ängstlich wie noch nie zuvor. Während der Fahrt, die noch über vier Stunden dauerte, wurde kein weiteres Wort gesprochen.
Eine sanfte Hand lag auf ihrer Wange. Und eine ebenso sanfte Stimme sprach zu ihr: "Meine gute Lucille, wach auf, wir sind da." Lucille war verwirrt - war die Fahrt, die Geschichte, die sie im Auto gehört hatte, auch nur ein Traum, oder war das alles real? Sie spürte das Leder des Maybach unter sich, sah Legion: Es war alles wahr.
Sie stieg aus. Vor ihr war ein riesiges Haus. Sofort dachte sie an Frederick Häretiks Villa, doch als sie hineingeführt wurde, stellte sie fest, dass dieses Anwesen nicht luxuriös war. Nur groß. Riesig, gigantisch, man bräuchte Wochen, um jeden Raum zu besichtigen, doch von Luxus war keine Spur, alles war auf das Praktische eingerichtet, nicht auf das Verschwenderische. Marmorsäulen waren hier nicht nötig, weil die fast einen Meter dicken Mauern aus Steinquadern stabil genug waren. Einen Teppich mit Goldrand brauchte hier auch niemand, weil der Parkettboden ebensogut trug.
"Hast du einen Wunsch?", fragte Legion. "Was?" Lucille war durcheinander. "Möchtest du schlafen, essen, ein Bad nehmen oder irgendetwas anderes?" "Ein Bad... ja, ein Bad... bitte." "Dann folge mir." Er führte sie einen schier endlosen Gang entlang. An den Wänden hingen einige Bilder, doch viele kannte Lucille nicht. Bei einem Holzschnitt allerdings blieb sie stehen. Legion wartete auf sie. "Das ist Albrecht Dürers Verehrung des Lammes!", sagte sie erstaunt. "Woher haben Sie es?" "Es ist eine Kopie", antwortete er. "Das Original habe ich vor langer Zeit verschenkt." "Verschenkt?", fragte Lucille entsetzt. "Sie haben dieses unendlich wertvolle Stück verschenkt?" "Ja." "Aber warum?" "Lucille, als du diesen Holzschnitt entdeckt hast, hast du da gemerkt, dass es sich nicht um den echten handelt?" "Nein." "Ist auf dieser Fälschung nicht dasselbe abgebildet, drückt sie nicht dasselbe aus wie das Original?" "Das ist schon richtig..." Er blieb während seiner Ausführungen stets sehr ruhig. "Diese Kopie sieht genauso aus wie das echte Stück. Sie drückt dasselbe aus. Warum also einem Namenskult huldigen, und damit die Kunst zur Nebensächlichkeit degradieren? Warum den Sinn vergessen und die Habgier Überhand gewinnen lassen? Warum an das Falsche glauben?" Lucille war erstaunt. Dieser Mann hatte recht. Es ging um den Ausdruck, denn Sinn der Kunst, nicht darum, von wem sie stammt.
Sie gingen weiter. Bald kamen sie an eine Tür. "Das ist das Bad", erklärte der Mann. "Lass dir soviel Zeit wie du brauchst." "Aber wo soll ich anschließend hinkommen?", fragte Lucille. "Sobald du fertig bist, werde ich dich finden. Und nun genieße dein Bad." Sie ging hinein, Legion schloss langsam die Tür. "Ach übrigens" sagte er noch schnell, solange die Tür noch nicht ganz zu war, "es ist das Original."