Das 100%ige Mädchen

MisterE

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Eines schönen Morgens im April komme ich auf einer kleinen Seitenstrasse an dem 100%igen Mädchen vorbei.
Ehrlich gesagt, ist sie nicht besonders hübsch. Sie ist weder besonders auffällig, noch ist sie schick gekleidet. Ihre Haare sind hinten vom Schlaf verlegen.
Aber trotzdem weiß ich schon aus fünfzig Meter Entfernung: Sie ist für mich das 100%ige Mädchen. Bei ihrem Anblick dröhnt es in meiner Brust, und mein Mund ist trocken wie eine Wüste.
Vielleicht gibt es einen bestimmten Typ Mädchen, der dir gefällt, mit kleinen Füßen zum Beispiel oder großen Augen, vielleicht stehst du auf schöne Finger oder fühlst dich, warum auch immer, von Mädchen angezogen, die sich beim Essen viel Zeit lassen. Dieses Gefühl meine ich. Auch ich habe natürlich meine Vorlieben. Aber auf den Typ des 100%igen Mädchens kann keiner definieren.
"Gestern kam ich an dem 100%igen Mädchen vorbei", erzähle ich jemandem.
"Hm", antwortet er, "war sie hübsch?"
"Nein, das nicht"
"Also dein Typ."
"Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich an nichts.
Weder an die Form ihrer Augen, noch daran, ob sie große oder kleine Brüste hatte."
"Das ist sonderbar."
"Ja, es ist sonderbar."
"Na und", sagt er scheinbar gelangweilt, "hast du was gemacht? Hast du sie angesprochen, oder bist du ihr nachgelaufen?"
"Nein, nichts. Ich bin einfach an ihr vorbeigegangen."
Sie ging von Osten nach Westen, ich von Westen nach Osten. An einem besonders schönen Morgen im April.
Ich möchte mit ihr sprechen, und wenn nur für eine halbe Stunde. Ich möchte von ihrem Leben erfahren und ihr von meinem erzählen. Mehr als alles andere aber möchte ich die Umstände des Schicksals klären, das uns an einem schönen Morgen im April in einer kleinen Seitenstrasse aneinander vorbeigeführt hat. Bestimmt birgt es wohlige Geheimnisse, so wie eine alte Maschine aus friedlichen Zeiten. Nachdem wir uns unterhalten hätten, würden wir irgendwo zu Mittag essen, einen Woody-Allen-Film sehen oder in einer Bar einen Cocktail trinken.
Die Chance pocht an die Tür meines Herzens. Nur noch 15 Meter liegen zwischen ihr und mir.
Also, wie soll ich sie ansprechen?
"Guten Tag. Würdest du dich kurz mit mir unterhalten?
Nur eine halbe Stunde."
Das klingt ziemlich albern. Wie ein Versicherungsvertreter.
"Entschuldigung, gibt es hier in der Nähe eine 24-Stunden-Reinigung?" Das ist genauso albern. Ich habe noch nicht einmal einen Wäschesack. Wer würde mir so etwas abnehmen?
Vielleicht sollte ich sie ganz offen ansprechen.
"Hallo. Du bist für mich das 100%ige Mädchen."
Nein, Quatsch. Das wird sie bestimmt nicht glauben.
Und wenn, wird sie sich kaum mit mir unterhalten wollen. Ich mag für dich das 100%ige Mädchen sein, wird sie vielleicht antworten, aber du bist für mich leider nicht der 100%ige Mann. Das ist ziemlich wahrscheinlich. Und in einer solchen Situation käme ich bestimmt furchtbar durcheinander. Von einem solchen Schock würde ich mich vielleicht nie wieder erholen.
Vor dem Blumenladen gehe ich an ihr vorbei. Ein warmer Luftzug streift meine Haut. Der Asphalt ist mit Wasser besprengt, und ringsum verbreitet sich Rosenduft. Ich kann sie nicht ansprechen. Sie trägt einen weißen Pullover und hält einen weißen Umschlag in der rechten Hand, noch ohne Briefmarken. Sie hat jemandem einen Brief geschrieben. Ihre Augen wirken sehr müde, vielleicht hat sie die ganze Nacht geschrieben. Und vielleicht enthält dieser Umschlag alle ihre Geheimnisse. Als ich mich nach einigen Schritten umdrehe, ist ihre Gestalt bereits in der Menschenmenge verschwunden.

Jetzt weiß ich natürlich genau, wie ich sie damals hätte ansprechen müssen. Es wäre bestimmt lang geworden, und ich hätte nicht die richtigen Worte gefunden. Mir fällt nie etwas Brauchbares ein.
Jedenfalls beginnt es mit "vor langer Zeit" und endet mit "eine traurige Geschichte, findest du nicht?".

Vor langer Zeit waren einmal ein Junge und ein Mädchen. Der Junge war 20, das Mädchen 18 Jahre alt. Der Junge sieht nicht besonders gut aus, und auch das Mädchen ist nicht besonders hübsch. Ein einsamer und gewöhnlicher Junge und ein einsames und gewöhnliches Mädchen, wie man sie überall findet. Doch glauben sie fest daran, dass es irgendwo auf dieser Welt ein Mädchen oder einen Jungen gibt, der 100%ig zu ihnen passt. Ja, sie glauben an ein Wunder. Und dieses Wunder geschah.
Eines Tages begegnen sich die beiden zufällig an einer Strassenecke.
"Unglaublich", sagt der Junge zu dem Mädchen "ich habe dich schon die ganze Zeit gesucht! Ob du es glaubst oder nicht, du bist für mich das 100%ige Mädchen." Und das Mädchen erwidert:"Und du bist für mich der 100% Junge. Genau wie ich ihn mir vorgestellt habe. Es ist wie im Traum."
Die beiden setzen sich auf eine Parkbank, halten sich an den Händen und reden in einem fort, ohne dass ihnen langweilig wird. Sie sind nicht mehr einsam. Sie haben ihren 100%igen Partner gefunden und sind von ihm gefunden worden. Seinen 100%igen Partner zu finden und von ihm gefunden zu werden, ist etwas ganz Ausserordentliches. Ein Wunder des Kosmos.
Aber ihre Herzen durchfährt ein kleiner, ganz kleiner Zweifel. Durfte ihr Traum so einfach in Erfüllung gehen? Als das Gespräch einmal abbricht, sagt der Junge:"Wir wollen uns nur einmal noch auf die Probe stellen. Wenn wir wirklich 100%ig füreinander geschaffen sind, werden wir uns bestimmt irgendwann irgendwo wiederbegegnen. Beim nächsten Mal wissen wir, dass wir 100%ig füreinander bestimmt sind, und wollen sofort heiraten. Einverstanden?"
"Einverstanden", antwortet das Mädchen.
Und so trennen sie sich. Nach Westen und nach Osten.
Doch es war in Wirklichkeit vollkommen unnötig, das Schicksal auf die Probe zu stellen. Sie hätten es nicht tun dürfen. Sie waren wirklich 100%ig füreinander bestimmt. Ihre Liebe war ein Wunder. Da sie aber noch zu jung waren, konnten sie es nicht wissen. Und so wurden sie von der immerwährenden, unbarmherzigen Welle des Schicksals fortgerissen. Eines Tages im Winter erkrankten beide an einer in jenem Jahr grassierenden schweren Grippe. Wochenlang schwebten sie zwischen Leben und Tod, und als sie wieder genesen waren, war ihr Gedächtnis an ihr früheres Leben ausgelöscht. Wie soll ich es sagen, als sie wieder aufwachten, waren ihre Köpfe so leergefegt wie eine Bahnhofshalle am Sonntag morgen.
Aber da er ein intelligenter und ausdauernder Junge und sie ein intelligentes und ausdauerndes Mädchen war, scheuten sie keine Mühe, erwarben von neuem Bewußtsein und Gefühle und kehrten erfolgreich in die Gesellschaft zurück. Ja, bei Gott, sie waren richtig ordentliche Bürger. Sie wußten, wie man in der U-Bahn korrekt umsteigt und wie man bei der Post einen Eilbrief aufgibt. Sie liebten auch, mal 75%, mal 85%.
Die Zeit war wie im Fluge vergangen.
Und eines schönen Morgens im April geht der Junge von Westen nach Osten durch eine kleine Seitenstrasse, um einen Kaffee zu trinken und das Mädchen geht, um Briefmarken für einen Eilbrief zu kaufen, die gleiche Strasse von Osten nach Westen. In der Mitte der Strasse kommen sie aneinander vorbei. Für einen Moment blitzt der schwache Schein verlorener Erinnerungen in ihren Herzen auf. Es dröhnt in ihrer Brust. Und sie wissen.
Sie ist für mich das 100%ige Mädchen.
Er ist für mich der 100%ige Junge.
Aber der Schein ihrer Erinnerung ist zu Schwach, ihre Sprache besitzt nicht mehr die Klarheit wie vor langer Zeit. Beide gehen, ohne ein Wort zu sagen aneinander vorbei und verschwinden in der Menge. Auf immer.
Eine traurige Geschichte, findest du nicht?

Ich weiß, so hätte ich sie ansprechen müssen.


-Haruki Murakami
 

Fraser

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Wirklich eine sehr traurige Geschichte.
Aber sagt sie uns nicht auch, dass man das Schicksal nicht auf die Probe stellen sollte?
Alles, was passiert hat einen Sinn. Und man sollte die Gelegenheiten, die uns das Schicksal gibt, sofort nutzen.
Auch wenn es nicht sofort 100% sind. Vielleicht erkennt man das ja nicht sofort, sondern erst mit der Zeit ...
Ich denke, wenn man einen Menschen gefunden hat, bei dem viele Sachen stimmen, sollte man die Chance wahr nehmen ... und nicht denken, vielleicht kommt ja noch etwas bessers ...
 

MisterE

Meister
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ja..
aber diese geschichte ist etwas krass dargestellt..ich meine..beide denken so..normalerweise wärs doch mit telenr austausch oder so getan..man
ruft später an usw usw..aber da beide die gleiche denkweise haben und sich wirklich sicher sein wollen, trennen sie sich einfach noch mal..ich denke es hat ihnen auch nichts ausgemacht, da sie ja der meinung sind "wenn es der richtige wäre, würde ich ihm nochmal begegnen..wenn nicht dann ist es mir egal"..

tja..
 

Fraser

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So sollte man aber eben NICHT denken!
Und 100%ige Sicherheit gibt es doch nicht wirklich.
Wer das denkt, wird sein Glück niemals finden.
 

ooOODreamA00oo

Neuling
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es gibt aber auch Menschen die an die wahre Liebe glauben , aber sie ihnen nie begegnet.. so sterben sie einsam ohne ihr wahres glück je gefunden zu haben...
 

Incy

Geselle
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Man unglaublich und das macht mich so traurig das ich letztens erst nen korb bekommen hab .. das ist genau das was einen so fertig macht ..wenn es für mich die 100% ige gewesen wäre ..ohh gott ..naja aber ich wars nunmal nicht für sie ..also heißtes stay tuned ;)
 

Teddy

Großmeister
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@ooOODreamA00oo: Vielleicht sind sie ihrer großen Liebe ja begegnet, nur haben sie es nicht wahrgenommen...
 

Fraser

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Ich habe auch ewig lange gebraucht, um es zu erkennen. Aber sie war zum Glück hartnäckig genug!!
Und jetzt bin ich sicher, dass sie es ist!!!!!
 

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