Christliche Soziallehren und soziale Marktwirtschaft

Telepathetic

Großmeister
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Ich habe in "Interessante Links" diesen Absatz geschrieben:

Und ja, eigentlich sollten die Bürger um einiges mehr Macht haben, vor allem, wenn es um ihr Geld geht. Aber da die EU und die UNO tatsächlicherweise mehr ein Top-Down-Modell sind, werden die Bürger im Endeffekt immer mit schön geplanten Programmen von oben beglückt. (Ich muß an der Stelle loswerden, dass ich in Ludwig von Mises' Buch "Socialism. An Economic and Sociological Analysis" ein Kapitel gefunden habe, in dem von Mises Gemeinsamkeiten zwischen dem Christentum und dem Sozialismus herausarbeitet. Es braucht sich niemand zu wundern, wenn die Christen aller Herren Länder kein Problem mit Umverteilung haben, auch nicht mit der Umverteilung von unten nach oben. Ich will bei Gelegenheit auf das Kapitel zurückkommen.)
hier

In "eigentümlich frei" für Januar/Februar 2018 habe ich im Artikel "Kein Ableger - Notizen zu einer aktuellen Diskussion" (es geht um Zusammenhänge zwischen christliche/kirchliche Soziallehre und Marktwirtschaft) auf Seite 39 f. folgendes gelesen:
Hubert Milz schrieb:
Schon in der Sozialenzyklika "Rerum Novarum" findet [Michael] Novak die moralische Rechtfertigung von Kapitalismus und Marktwirtschaft verortet, hier blitzt für ihn oftmals der Esprit von Adam Smith auf. Ausführlich zu Wort kommt bei Novak die Sozialenzyklika "Centesimus annus" von 1991. In dieser Enzyklika ist die moralische Rechtfertigung der Marktwirtschaft fest verankert. Die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft wird anerkannt und gelobt. Der "moderne" Wohlfahrtsstaat hingegen wird in "Centesimus annus" verworfen als ein Staat, der für Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Solidarität im eigentlichen Sinne nicht hilfreich ist. "Centesimus annus" geißelte den wuchernden Sozialstaat beziehungsweise den Wohlfahrtsstaat, nannte ihn einen Staat, der die Menschen ihrer Verantwortung beraubt, den Verlust an menschlicher Energie und Kreativität verantwortet, die Staatsapparate aufbläht und der durch eine maßlose staatliche Ausgabensteigerung gekennzeichnet ist.

Das finde ich so bemerkenswert, dass ich einen eigenen Thread dafür eröffne. Ich habe in "Interessante Links" und "Antijudaismus im Neuen Testament" ein wenig über Walter Veith's felsenfeste Überzeugungen geschrieben, hier ist dann mal ein Gegenbeweis, dass es den Kirchen/den Christen und wenigstens den beiden Päpsten, die die genannten Ezykliken verfasst haben, nicht um eine unendliche Ausweitung materieller Umverteilung gehen kann.

Im Text von Ludwig von Mises' Buch "Socialism. An Economic and Sociological Analysis" wird deutlich, dass Jesus und seine Jünger daran geglaubt haben, dass das Reich Gottes unmittelbar bevorsteht und dass es deswegen keinen Sinn mehr macht, überhaupt noch irgendwelche irdischen Besitztümer mit Ausnahme der eigenen Kleidung zu haben. Denn Gott wird schon für alles Leibliche sorgen, wichtig ist lediglich, dass man sich auf das Reich Gottes vorbereitet, indem man seine Sünden bereut und fortan Gottes Geboten folgt.

Ich könnte es bei der Feststellung belassen, aber mich interessiert seit neuestem die Frage, ob Religionen nicht auch deswegen einen schlechteren Ruf bekommen haben, weil Kern-Prinzipien wie "Respekt vor dem Eigentum anderer", "Eigenverantwortung in der, bzw. mit der Gemeinschaft" und "Wert der Familie" nicht so ganz (und das heißt gar nicht) in den stärker werdenden Nanny-Staat, den Sozialstaat, Frauen in die Arbeitswelt-Staat und natürlich den kulturlosen Multi-Kulti-Staat, in dem zusammengequetscht wird, was nicht zusammen gehort, passen. (Ich bin mir bewußt, dass Kindesmißbrauch und Krieg im Namen der Gottheit eine schlechte Werbung snd.)

Wie seht ihr das?

Jedenfalls für alle eine schöne Weihnachtszeit, egal, was ihr glaubt oder nicht glaubt. :xmas:
 

streicher

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Interessant - Max Weber geht in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus davon aus, dass die religiösen Weltanschauung der Protestanten und das die kapitalistischen Prinzipien der Akkumulation und der Reinvestition gut kompatibel sind. Er geht also in eine ganz andere Richtung als Mises.

Die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft wird anerkannt und gelobt. Der "moderne" Wohlfahrtsstaat hingegen wird in "Centesimus annus" verworfen als ein Staat, der für Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Solidarität im eigentlichen Sinne nicht hilfreich ist. "Centesimus annus" geißelte den wuchernden Sozialstaat beziehungsweise den Wohlfahrtsstaat, nannte ihn einen Staat, der die Menschen ihrer Verantwortung beraubt, den Verlust an menschlicher Energie und Kreativität verantwortet, die Staatsapparate aufbläht und der durch eine maßlose staatliche Ausgabensteigerung gekennzeichnet ist.
Da fallen mir sofort die USA ein. Aktuell wird der Sozialstaat gekürzt. Es gibt dort Lehren unter den Christen, die den Reichtum der Gläubigen predigen und sogar behaupten, dass der Wert des Menschen an seinem Reichtum erkennbar sei. Nur: die USA schaffen es interessanterweise trotzdem nicht, die Ausgaben zu deckeln. Vielmehr sehen wir dort eine maßlose Ausgabensteigerung (Schuldenuhr der USA).

Das steht ganz sicher im krassen Gegensatz zu der ursprünglichen Lehre Jesu, der zitiert wird, dass es für einen Reichen schwer sei, ins Himmelreich zu kommen.
Diejenigen, die mit wenig zufrieden sind - aus anderen Gründen, gibt es jedoch durchaus auch. Die Grundbedürfnisse derjenigen Personen müssen allerdings gestillt sein.

Als grundlegende Ursache für die fallende Attraktivität der Religionen sehe ich darin, dass sie nicht mehr erklären können, zum Beispiel die Entstehung der Arten, den Lauf der Geschichte, große und kleine Zusammenhänge der Materie.
Der Religion würde ich eher zuschreiben, dass sie beengt, eher Freiheit nimmt. Ich würde vermuten, dass Menschen, die sich einer strengen Religion entledigen und dann tatsächlich ihr eigenes Leben führen können, es als viel freier empfinden. Damit einher geht allerdings auch die Erweiterung des Spektrums der Lebensmodelle. Ein Staat, der sich glaubwürdig Freiheit auf die Fahne schreibt, vollzieht dies nach und probiert möglicherweise, dafür Grundlagen zu schaffen.
 

Telepathetic

Großmeister
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streicher schrieb:
Interessant - Max Weber geht in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus davon aus, dass die religiösen Weltanschauung der Protestanten und das die kapitalistischen Prinzipien der Akkumulation und der Reinvestition gut kompatibel sind. Er geht also in eine ganz andere Richtung als Mises.
Ich finde, hier wird deutlich, dass es
1.) tatsächlich ökonomische Prinzipien gibt, die überall und immer gelten und
2.) dass das materielle Wohl der Menschen in Gemeinschaften, in denen die heiligen Texte der Religion als oberste Autorität und Richtschnur gelten, abhängig von der Auslegung selbiger ist.

Wenn also gepredigt wird, dass es besser ist, seine geistlichen Schätze im Himmel zu sammeln, anstatt Reichtum zu akkumulieren, weil Reichtum automatisch zu Immoralität führt, dann werden zwangsläufig alle Aktivitäten sein gelassen oder eingeschränkt, die zu Reichtum führen. Dafür wird das Hauptaugenmerk auf das korrekte Verhalten gerichtet. Reichtum wird zum Gegenpol zu Gottgefälligkeit. Allerdings enthält Jesu Ausspruch auch eine (praktisch unbedeutende) Einschränkung. Er sagt "eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr ...". Was ist aber immoralisch daran, wenn der Reichtum z. B. dafür eingesetzt wird, dass die Menschen im Schnitt gesünder leben können?

streicher schrieb:
Als grundlegende Ursache für die fallende Attraktivität der Religionen sehe ich darin, dass sie nicht mehr erklären können, zum Beispiel die Entstehung der Arten, den Lauf der Geschichte, große und kleine Zusammenhänge der Materie.
Der Religion würde ich eher zuschreiben, dass sie beengt, eher Freiheit nimmt. Ich würde vermuten, dass Menschen, die sich einer strengen Religion entledigen und dann tatsächlich ihr eigenes Leben führen können, es als viel freier empfinden. Damit einher geht allerdings auch die Erweiterung des Spektrums der Lebensmodelle. Ein Staat, der sich glaubwürdig Freiheit auf die Fahne schreibt, vollzieht dies nach und probiert möglicherweise, dafür Grundlagen zu schaffen.
Ich stimme Dir in allen Punkten zu. Bei näherer Betrachtung stammt die neuerliche Betonung der christlichen Werte und des Christentums in manchen alternativen Medien aus der Überlegung heraus, dass sie ein Gegengewicht zum stärker werdenden Islam mit seinen aus unserer Sicht heraus rückwärtsgewandten Werten bilden sollen. Dabei finde ich aber fraglich, ob die Rückbesinnung auf die christlichen Werte nicht eigentlich auch weniger Freiheit für Frauen bedeuten würde. Zufällig bin ich neulich auf 1. Korinther 14:33-35 gestoßen. Da heißt es:
33 Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens. Wie in allen Gemeinden der heiligen 34 sollen die Frauen schweigen in den Gemeindeversammlungen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. 35 Wollen sie aber etwas lernen, so sollen sie daheim ihre Männer fragen. Es steht einer Frau schlecht an, in der Gemeindeversammlung zu reden.
Eine Haltung, die im Islam noch gelebt wird. Und wenn man bei uns im christlichen Deutschland zurückschaut, so sind Gesetze, die Frauen vor Vergewaltigung in der Ehe und dergleichen schützen und das Bewußtsein, dass Frauen eben nicht zweitklassig sind und vom Gutdünken des Mannes abhängig sind, sondern genauso Menschen sind, eine unverbrüchliche Würde haben und ebenso einen eigenen Willen, auch noch nicht so alt. Das ging alles erst in den 60ern los. Von daher ist der Blick auf das Christentum hierzulande auch ein wenig nostalgisch, vermutlich, und von meiner Seite aus kann ich nur sagen, dass ich auch einem christlichen Kollektivismus, der den Leuten eintrichtert, was sie tun und lassen sollen, ablehnen würde. Auch will ich die Uhr nicht zurückdrehen. Ich glaube auch nicht daran, dass ein erstarkendes Christentum den maßlosen und alles männliche ablehnenden Feminismus in den Griff bekommen würde. Ich könnte jetzt ganz zynisch (und über alle Maßen hässlich) sagen, dass die Muslime wenigstens ihre Frauen im Griff haben, aber dann müßte ich mich selbst vollkotzen, denn wenn an Artikeln wie diesem hier ("Der Krieg gegen Frauen hat begonnen") etwas dran ist, und es ist etwas dran, aus eigener Beobachtung heraus, dann stehen uns schlimme Zeiten bevor. Und es ist nicht einzusehen, alle moderne Errungenschaften wegen der Einwanderer aufzugeben.

Ich plädiere daher dafür, weniger das Christentum zu befördern, als die modernen Errungenschaften zu verteidigen. Und ich plädiere dafür, Religion aus all dem, herauszuhalten. Besser ist es, wissenschaftlich an die Sache heranzugehen.
 

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Telepathetic schrieb:
Wenn also gepredigt wird, dass es besser ist, seine geistlichen Schätze im Himmel zu sammeln, anstatt Reichtum zu akkumulieren, weil Reichtum automatisch zu Immoralität führt, dann werden zwangsläufig alle Aktivitäten sein gelassen oder eingeschränkt, (...) Was ist aber immoralisch daran, wenn der Reichtum z. B. dafür eingesetzt wird, dass die Menschen im Schnitt gesünder leben können?
Wenn finanzielle Mittel reinvestiert werden, um Verbesserungen zu erreichen, lässt sich schwer etwas dagegen sagen. In was wird investiert und warum?
Aber es geht auch anders: Wird investiert, um noch mehr zu akkumulieren und/oder andere aus den Markt zu drängen? Wird ein Produkt verbreitet, um andere Produkte verschwinden zu lassen? (Hier sehe ich durchaus Parallelen zur Verbreitung von Religion (als Produkt): die christliche Religion wurde anfänglich, und wird auch heute noch, von Marktschreiern weiterverkauft.)

Telepathetic: Dabei finde ich aber fraglich, ob die Rückbesinnung auf die christlichen Werte nicht eigentlich auch weniger Freiheit für Frauen bedeuten würde.
Das passiert durchaus bei strengen Auslegungen. Nicht umsonst existieren sozusagene Brüdergemeinden.
Der streng ausgelegte Islam sieht vielerorts Frauen als Menschen, die weniger Wert haben als der Mann und zu "zügeln ist". Komischerweise kaschieren und/oder begründen die Männer damit die eigene Zügellosigkeit. Von männlicher Zügellosigkeit zeugt auch diese Initiative: harassmap.

Ich war gestern auf einer Ausstellung zu Kurt Eisner im Münchner Stadtmuseum. Ausgestellt waren auch reine Fraueninitiativen gegen den ersten Weltkrieg und überhaupt gegen die Kriegsmaschinerie. Zu denen stand Eisner hin und wieder in Kontakt. Das allgemeine Frauenwahlrecht wurde in Deutschland im Jahre 1919 eingeführt.
In Deutschland wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 strafbar. Das ist nicht lange her.
Und sicher: die Rechte der Frau müssen verteidigt und weiter errungen werden.
Dass selbst der Islam anders gedacht werden kann, zeigt der Liberal-Islamische Bund e.V.. Ein Tropfen auf dem heißen Stein?
 

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