Schriftentwicklung, Sprachphilosphie und Suggestion

MirEgal

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Schrift als Speichermedium von Sprache (und Gedanken), wenn ich das richtig verstanden habe?

Kultur und Zivilisation konnte also erst mit der Schrift aufblühen, da der Speicher Mensch begrenzt ist. Die Übertragung von Gedanken in Schrift, konserviert diese Gedanken für zukünftige Generationen und erlaubt es bereits gewonnene Erkenntnisse zu erhalten. Da aber der Übergang von Medium zu Medium generell verlustbehaftet ist, ändern sich diese Gedanken je nach der Art der Schrift.

Somit bestimmt die Schrift in einem gewissen Grad unser Denkmodell.

Ich hoffe ich habe den Gedanken hinter dem Thread richtig verstanden.


Wie sehr beeinflusst unser Sprach/Schriftmodell unser Denken? Kann man das mit der Tatsache in Verbindung bringen, dass östliche Einrichtungen mehrere tausend Jahre bestanden, während sich in Europa alles alle paar Jahrhunderte ändert?
 

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MirEgal schrieb:
Die Übertragung von Gedanken in Schrift, konserviert diese Gedanken für zukünftige Generationen und erlaubt es bereits gewonnene Erkenntnisse zu erhalten. Da aber der Übergang von Medium zu Medium generell verlustbehaftet ist, ändern sich diese Gedanken je nach der Art der Schrift.

Somit bestimmt die Schrift in einem gewissen Grad unser Denkmodell.

Ich hoffe ich habe den Gedanken hinter dem Thread richtig verstanden.

Dem von dir Geschriebenen kann ich mich anschließen, und du hast damit sicher eine wichtige Aussage dieses Threads kurz und bündig auf den Punkt gebracht.
Allerdings geht es um mehr: nicht nur das jeweilige Sprachsystem bestimmt das Denken, sondern auch die Art und Weise, wie Sprache und Schrift für verschiedene Zwecke eingesetzt werden - und hier kommen wir in den Bereich konkreter Einflussnahme...

Es ist ein sehr umfangreiches Thema, wie schon des öfteren bemerkt wurde, und alle Interessierten sind herzlich eingeladen, ihre Überlegungen - insofern sie etwas mit Schriftentwicklung, Sprachphilosophie und dem suggestiven, realitätsbildenden Charakter von Sprache und Schrift zu tun haben - hier festzuhalten.
Mir selbst schwebt kein bestimmtes Ziel vor: ich interessiere mich für diesen Themenkomplex und erachte es als vorteilhaft, sich ihm aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Prioritäten zu nähern.

Wie sehr beeinflusst unser Sprach/Schriftmodell unser Denken? Kann man das mit der Tatsache in Verbindung bringen, dass östliche Einrichtungen mehrere tausend Jahre bestanden, während sich in Europa alles alle paar Jahrhunderte ändert?

Dieser Ansatz ist sicher nicht unsinnig - mit schnellen Schlussfolgerungen sollte man jedoch vorsichtig sein: vieles hat sich auch in Europa lange erhalten, anderes ist im Osten entwickelt und verändert worden. Ich persönlich sehe mich nicht in der Lage, auf diese Frage eine vernünftige oder gar abschließende Antwort zu geben - aber der Grundaussage, dass Sprache, Schrift, Denken und Kultur in Korrelation stehen, kann ich nur zustimmen....


mfg
 

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Hier mal wieder ein paar Links, zunächst zwei Artikel zum Themenkreis Dekonstruktion & Buddhismus:


Derrida and Seng-Zhao: Linguistic and Philosophical Deconstruction
By Cai Zongqi

Contemporary Western deconstructive philosophy and Maadhyamika Buddhism are, historically and geographically, far apart from each other. One grew out of the "beyond-thinking" of the French philosopher Jacques Derrida around the late 1960s. The other was founded by the Indian thinker Naagaarjuna (ca. 100-200) and established in China by Seng-zhao (374-414), and flourished in Korea from the sixth to the fifteenth century and in Japan from the seventh to the twelfth century. [1] However, there exist many important parallels in method, strategy, and rationale between these two philosophical traditions. Recently, a number of scholars have discovered significant parallels in the Derridean negation and the Maadhyamika prasa^nga (reductio ad absurdum), and carefully compared the logic of negativity at work in both traditions. [2] Here, we will turn our attention to the hitherto unexplored parallels in Derridean and Maadhyamika deconstructive use of language. [3] First, we will examine how Derrida and Seng-zhao, the founder of Chinese Maadhyamika, perform lexical-syntactical deconstructions in their philosophical writings. [4] Then, we will consider how Derrida and Seng-zhao use their lexical-syntactical deconstructions to demonstrate the impossibility of claiming ontological-theological (hereafter ontotheological) essence in and/or through language, and how they proceed to double-negate Name-reifying and Matter-reifying ontotheologies in their respective traditions. Lastly, we will observe how Derrida and Seng-zhao theorize about their double negation in similar terms of neither/nor but pursue their deconstructive enterprises along different paths.


I. Lexical-Syntactical Deconstruction: Derrida's Word Game and Seng-zhao's Word Maze

Derrida's handling of words has often been compared to a sleight of hand. In his writings, Derrida plays with words the way a magician plays with his objects. He takes a special delight in juggling opposite meanings within a word and creating a dizzying illusion of presence and absence, affirmation and denial. To figure out the secrets of his word game, let us now look at the ways he plays meanings off against each other at the typographic, morphological, orthographic, semantic, etymological, and syntactic levels.

weiter:
http://ccbs.ntu.edu.tw/FULLTEXT/JR-PHIL/cai1.htm




The Karmic Text: A Buddhist Reading of Jacques Derrida and Paul de Man Reading Walter Benjamin's 'The Task of the Translator'

Jeff Humphries

http://www.utpjournals.com/product/utq/663/663_humphries.html





Außerdem lesenswert:
SCHRIFT/SCHREIBEN ALS TRANSGRESSION
WALTER BENJAMINS KONSTRUKTION VON GESCHICHTE(N)

Karlheinz Barck

Auszugsweise:
Michel Serres nannte jüngst den "Triumph des geschriebenen Wortes" seit der Gutenberg-Galaxis eine "Katastrophe für die menschliche Wahrnehmung". Benjamin verhielt sich dem platonischen Verdikt gegen die Schrift und das Schreiben gegenüber weniger resignativ. Er sah in der Schrift die Spuren der ursprünglichen Doppelbedeutung eines wahrnehmenden Lesens, dem alphabetischen Buchstabuieren und dem Herauslesen, z.B. in der Deutung von Sternbildern. "Wahrnehmung ist Lesen" in der Fläche und Schrift ist eine Verräumlichung von Wahrnehmung.

Es ist aufschlußreich für den unsystematischen Zusammenhang von Benjamins projizierendem Denken, wie konsequent er die Perspektive eines anthropologischen Materialismus /pp. 37-38/ sprach- und schriftgeschichtlich auszubauen versuchte. Es ist darum nicht verwunderlich und überrascht nicht, wenn Benjamin unter wahrnehmungsästhetischer Perspektive nicht ein Ende der Schrift beklagt, sondern für ein verändertes, grenzüberschreitendes Schreiben auf der Höhe der technischen Entwicklungen plädiert und dies auch in seinem eigenen Schreiben praktiziert hat. So schrieb er im "Vereidigten Bücherrevisor"der Einbahnstraße:

Aber es ist ganz außer Zweifel, daß die Entwicklung der Schrift ins Unabsehbare an die Machtansprüche eines chaotischen Betriebes der Wissenschaft und Wirtschaft gebunden bleibt, vielmehr der Augenblick kommt, da Quantität in Qualität umschlägt und die Schrift, die immer tiefer in das graphische Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit vorstößt, mit einem Male ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft wird. An dieser Bilderschrift werden Poeten, die dann wie in Urzeiten vorerst und vor allem Schriftkundige sein werden, nur mitarbeiten können, wenn sie sich die Gebiete erschließen, in denen (ohne viel Aufhebens von sich zu machen) deren Konstruktion sich vollzieht: die des statistischen und technischen Diagramms. Mit der Begründung einer internationalen Wandelschrift werden sie ihre Autorität im Leben der Völker erneuern und eine Rolle vorfinden, im Vergleich zu der alle Aspirationen auf Erneuerung der Rhetorik sich als altfränkische Träumereien erweisen werden. ( GS 4,1: 103-4)

http://pum12.pum.umontreal.ca/revues/surfaces/vol4/barck.html




Und folgenden Link wollte ich mal festhalten, eine Bücherliste mit über 800 Titeln zur Numerologie:
http://phrontistery.50megs.com/nnsbib.html
 

Ellinaelea

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Gilgamesh schrieb:
Wenn ein Primat die Spur, den Abdruck eines Wildes im Boden lesen und deuten konnte, so bedeutet dies ein Überlebensvorteil für ihn, da er einerseits Raubtieren ausweichen konnte und sonstiges Wild selber verfolgen und jagen.
Ich denk, dass Urzeit-Menschen diese Spuren imitiert haben, im Lehm selber nachgebildet und es den Kindern gelehrt. AUf diese Weise sind, meiner Meinung nach, die ersten Schritte zur Entwicklung der eigenen Schrift vollzogen wurden.
Scheint, du denkst da richtig. Habe gerade einen Bericht gelesen in einem Magazin vom Spektrumverlag, nach dem beim Spurenlesen gleiche Hirnareale aktiv sind wie beim Schrift lesen.
 

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Ellinaelea schrieb:
Gilgamesh schrieb:
Wenn ein Primat die Spur, den Abdruck eines Wildes im Boden lesen und deuten konnte, so bedeutet dies ein Überlebensvorteil für ihn, da er einerseits Raubtieren ausweichen konnte und sonstiges Wild selber verfolgen und jagen.
Ich denk, dass Urzeit-Menschen diese Spuren imitiert haben, im Lehm selber nachgebildet und es den Kindern gelehrt. AUf diese Weise sind, meiner Meinung nach, die ersten Schritte zur Entwicklung der eigenen Schrift vollzogen wurden.
Scheint, du denkst da richtig. Habe gerade einen Bericht gelesen in einem Magazin vom Spektrumverlag, nach dem beim Spurenlesen gleiche Hirnareale aktiv sind wie beim Schrift lesen.

Das spielt meiner Einschätzung nach eine wichtige Rolle im Kontext der Zeichenentwicklung, die später bei den Zählsteinen bzw. Tokens zu fassen ist, aber auch was die Interpretation von KOmbinationen angeht - die Abbildung von Sprache war jedoch sozusagen ein weiterer Schritt.

Letztendlich ist noch keine kausalität bewiesen, wenn gleiche oder ähnliche Hirnrareale verantwortlich sind, aber einen vorgeschichtlichen Zusammenhang könnte ich mir da wie auch weiter oben beschrieben durchaus vorstellen.

Was für Folgerungen und Theorien werden denn im erwähnten Bericht beschrieben?
 

Ellinaelea

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...

Es ging im Artikel v.a. um die Fähigkeit der Forscher, Hypothesen aufzustellen, dieselben zu prüfen, Informationen zusammenzusetzen und daraus Regeln abzuleiten. Da die Wissenschaft in heutiger Form noch nicht allzulange existiert, kann eine solche Begabung nicht extra dafür in wenigen Jahrhundert entwickelt worden sein, sondern muss auf einen früheren Abschnitt der Evolution zurückgeführt werden können.
Es wird verglichen zwischen Pflanzensammeln, wo die Entwicklung schlicht auf Versuch und Irrtum beruht (genannt induktiv, sprich vom Einzelnen auf das Allgemeine schliessend.) und der Jagd, wo das Spurenlesen mehr eine deduktive Vorgehensweise erfordert (Ableitung des Einzelnen vom Allgemeinen). Bsp: Wie würde sich ein Zebra in diesem Terrain und zu dieser Jahreszeit bewegen, wenn es in dieser Situation an dieser Körperstelle durch meinen Pfeil verwundet wurde?
Offenbar sind sogar unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, des Spurenlesens unfähig und reagieren in keinster Art und Weise auf Spuren von für sie gefährlichen Raubtieren wie Grosskatzen oder Giftschlangen.
Gyrus angularis nennt sich die Windung im Gehirn, die für das Lesen zuständig ist. Eine solche Region kann sich aber nicht in den wenigen tausend Jahren entwickelt haben, die Schrift existiert. Die Region dient ebenfalls der Objekterkennung und dem Spurenlesen.
Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit des Spurenlesens (genauso wie die Kunst des Lesens und Schreibens) auf beide Geschlechter gleich verteilt ist.
Ausserdem wird angefügt, dass Naturvölker wie zB die australischen Ureinwohner zum Lernen des Spurenlesens bei ihren Kindern dasselbe Zeitfenster haben, wie unserorts das Alphabet gebüffelt wird. Und wer es bis 15 nicht gelernt hat, endet als (Spuren)Analphabet.

Der Artikel findet sich im "Gehirn&Geist"-Dossier "Abenteuer Alltag" vom Spektrum-Verlag. (Das Heft kann ich auch sonst empfehlen, es werden einige interessante Sachen angerissen wie zB die Existenzberechtigung von Vorurteilen oder der Geisteszustand von Verschwörern *g*
Als weitere Literaturtipps zum Spurenleser-Artikel werden empfohlen: "The Roots of Scientific" von P. Carruthers, "Neurobiologie und Kulturgeschichte des Lesens und Schreibens" von O.-J. Grüsser und "The Art of Tracking – The Origin of Science" von L. Liebenberg.
 

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Re: ...

Zunächst mal vielen Dank für diese ausführliche Darstellung bzw. passende Ergänzung, ebenso wie für die Literaturangaben!

Spontan würde ich zwar nicht allem genannten zustimmen (vielleicht jedoch nach einem genaueren Blick in die entsprechenden Publikationen), aber grundsätzlich wurden die Fähigkeiten, die für die Entwicklung der Schrift wichtig waren, zweifellos in früherer Zeit durch das Spurenlesen geschult - oder, evolutionsbiologisch formuliert: die erwähnten Fähigkeiten waren in früherer Zeit ein klarer Selektionsvorteil, weshalb sich diesen Fähigkeiten förderliche Mutationen durchsetzen konnten...

Die Bedeutung des Spurenlesens für die Schriftentwicklung betreffend würde ich deshalb vor allem zwei Möglichkeiten als wahrscheinlich einschätzen: die für beide Aktionen verantwortlichen Fähigkeiten (etwa mit Repräsentationen und deren Kombinationen umzugehen) wurde psychisch-neurobiologisch, aber auch gesellschaftlich-"memetisch" gefördert - das letztgenannte ist vielleicht sogar ein mindestens ebenso wichtiger Aspekt...
Das Spurenlesen und das von Gilgamesh erwähnte Nachzeichnen steht jedoch meiner Einschätzung nach in keiner direkten entwicklungsgeschichtlichen Kausalität mit der Schriftentstehung, auch da die Entwicklung etwa von den Zählkugeln verschiedener Form, die seit ca. 9000/8000 v.Chr. im Nahen Osten in Gebrauch waren, bis zu mit Zeichen versehenen Hüllen von Tokens eine recht gut nachvollziehbare Geschichte, u.a. vom Zeichen zur Zeichenkombination, ergeben (das gilt jedoch natürlich in erster Linie für den Nahen Osten und die geschichtlich anschließenden Zivilisationen).
Die Bedeutung vermute ich vor allem auf grundsätzlicher Ebene, etwa die benötigten neurobiologischen Fähigkeiten, aber vielleicht auch die soziale Einbindung, Wertschätzung und vor allem Tradierung derartiger Fähigkeiten betreffend.

Sollte mir vor weiteren kommentaren jedoch die ein oder andere Publikation durchlesen ;)

mfg
 
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