Kugel, Stab und Licht

Eireannach

Großmeister
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10. April 2002
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Eine Waldlichtung in der Nacht, es geht nur wenig Wind. Am Rande schwach doch ausreichend erhellend ein Feuer, zwei Schemen sitzen ein Stück davon entfernt.
Während Wolken den Himmel verdunkeln, vergehen Sekunden, Minuten, Stunden.
Es ist still, nur ein junger Kauz zelebriert in der Nähe Andacht. Er hält kurz inne, als er bemerkt, dass einzelne kleine Diamanten beginnen, sich über den Wipfeln im gegenseitigen Anfunkeln zu necken. Immer mehr Sterne nehmen, befreit von den Fessel der Wolken, an ihrem lustigen Spiel teil, bis schließlich der alte Wächter die Bewunderung des Tieres auf sich lenkt. Majestätisch bahnt sich der volle Mond seinen Weg durch die alten Baumkronen im Osten und bündelt sich schließlich auf magische Weise in einem Kreis, der aus etwas größeren Steinen errichtet wurde. Der Vogel verstummt augenblicklich.
Die zwei Gestalten erheben sich von dem moosbedeckten Felsen, der ihr Begleiter in den langen Stunden des Wartens gewesen ist. Sie tragen lange Umhänge mit Kapuze, ihre Gesichter sind nur zu erahnen. Der eine, denn vom Körperbau vermutlich ein Mann, hält in der Hand einen einfachen, doch stabilen und sauber geschnitzten Holzstab, an dessen Ende sich ein runde schalenförmige Einwölbung befindet. Die andere Gestalt trägt eine kristallene Kugel, von der ein bläulicher Schein ausgeht.
Das Feuer wird gelöscht.
Sie stellen sich einander den Rücken zugewandt in den Kreis.
Mit dem Stab wird von dem Mann ein schlangenartiges, reich verziertes Symbol über seine Kreishälfte gezeichnet, während die andere Gestalt die Kugel zum Mond erhebt und mit einer wohlklingenden, weiblichen Stimme anfängt zu flüstern:

In Stille beginnst Du,
ganz leise entrinnst Du
ins Dunkel der Nacht.

Kaum nur ein Flüstern,
ein lautloses Wispern
und doch große Macht.


Für einen Augenblick scheint der Mond etwas heller aufzuleuchten, der Wind stärker aufzuwehen. Wortlos und ohne sich umzudrehen tauschen der Mann und die Frau ihre Gegenstände aus. Auch die weibliche Gestalt umzeichnet nun ihrerseits den Steinkreis mit fremdartigen Symbolen, dabei spricht der Mann folgende Worte:


Fließ durch Schatten und durch Schemen,
sie können Dir die Kraft nicht nehmen
Aber Du vermagst so viel.

Unaufhaltsam vorwärts strebend,
die Erde lautlos noch erbebend,
verfolgst Du jenes große Ziel.


Während noch die letzten Silben zwischen den grünen Blättern verhallen, wenden sich beide um und blicken einander an. Die Kugel wird in die passende Form an der Spitze des Stabes gelegt. Gemeinsam ergreifen sie den Stab und stoßen ihn fest in die Erde, genau in die Mitte des Kreises. Vom Stab geht nun eine wohlige Wärme aus und ein bläulicher Kranz umhüllt die Kugel darauf, die ihrerseits das herabfallende Mondlicht auf die Kreislinie lenkt. Noch immer unten den Kapuzen verborgen pressen sie jeweils eine handbreit links und rechts der Stabspitze ihre Handflächen an die des anderen. Während nun einzelne kleine Lichtblitze von der Kugel aus in alle Richtungen schießen, intonieren sie immer lauter werdend:

Du sollst springen und tanzen um die Welt zu bewegen,
sollst Dich wandeln und winden um zu ändern und regen
sollst den ganzen Kreis schließen um zu öffnen ein Tor.

Du sollst das Alte entzweien um das Neue zu binden,
sollst die Lichter verdunkeln und dann wieder entzünden:


Ein Windstoß reißt ihnen die Umhänge vom Körper. Ihre nackten Leiber kommen einander immer näher. Der Stab glüht grell leuchtend auf und man erkennt, wie ihre Hände ineinander zu verschmelzen beginnen. Sturmartig rollt neuer Wind heran und verknotet und verstrickt ihre langen dunklen Haare, während ihre Körper nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. Die katzenartigen Augen sprühen vor wilder Entschlossenheit, doch zärtlicher Liebe zugleich. Bereit zu empfangen und bereit zu geben befindet sich nur noch der Stab zwischen ihrer Eins-Werdung. Als ihre Lippen sich schon berühren, flüstern sie endlich wie aus einer Stimme

Wir rufen Dich, Einer, so steige empor!
Wir rufen Dich, Einer, so steige empor!
Wir rufen Dich, Einer, so steige empor!

Die Welt um sie verstummt völlig. Die Zeit steht.
In der Ewigkeit/ In den Bruchteilen eines Moments werden sie noch einmal von allen Erinnerungen ihres Lebens durchflutet, sie ertragen gemeinsam ihre Schmerzen, genießen zusammen alle geschehenen Freuden, leben jeden Funken Energie erneut.
Und dann läuft die Zeit weiter, um die endgültige Vereinigung der beiden zu vollenden.
Ein Strahl aus reiner Energie, die Summe aller Energie ihrer beiden Leben rast lautlos im gleichen Moment in die Kugel auf der Stabspitze, als beide im Stab in der Kugel im Kreis im Wald in sich selbst eins werden.
Dann ist es wieder eine ganz normale Nacht im Wald. Der Kauz hat seine Rufe wieder aufgenommen, irgendwo im Dickicht streifen zwei Füchse auf der Suche nach Beute umher.
Der Mond hat sich wieder hinter eine der vielen Regenwolken versteckt und die Feuerstelle am Rande der Lichtung ist verschwunden. Nichts Sichtbares deutet darauf hin, dass hier irgendetwas geschehen wäre.
Und doch ist etwas anders. Die gesamte Umgebung scheint einen etwas helleren Farbton angenommen zu haben, als hätte man überall ein wenig Blau beigemischt. Auf einmal springen hier und da kleine bläulichen Funken durch die Luft und der Boden scheint ganz unmerklich zu vibrieren. Zuerst nur in jener kleinen Lichtung, doch schon sehr bald auch in einem größeren Umkreis, bis schließlich....
Und wie aus dem tiefsten Inneren der Erde sagt eine Stimme warm und liebevoll:

Im einen Geist bin ich fest zentriert,
Von ewiger Einheit bin ich hergeführt.

Ich webe von nun an das Goldene Netz,
ich binde das „damals“ und „später“ zum „jetzt“.

Ich komme in Nacktheit und ent-täusche Verkleidung,
Ich schaffe die Einheit in Unterscheidung.

Ich nehme die Blindheit und biete die Sicht.
Ich bin die Kugel, der Stab und das Licht!
 
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