Das Wahrnehmungs-Unterschiedlichkeits-Problem
Wirklichkeit ist der Wirkungsraum des Geschehenden an sich.
Was wir von der Wirklichkeit für wahr nehmen, registrieren, bzw. was davon unsere Sinne erreicht, nennen wir also Wahrnehmung. Von der Wirklichkeit hat jeder eine mehr oder weniger ausgedehnte Wahrnehmung. Man kann davon ausgehen, dass Wahrnehmung auch davon abhängt, wie viel Wirklichkeit sich jemand gönnt oder auswählt, was er davon wahrnehmen will. Andere Eindrücke drängen ins Wahrnehmungsfeld, man könnte sie gar nicht willentlich ausblocken.( Zum Beispiel Schmerz, Gichtanfälle, Lärm, der Geschmack 'sauer', Minustemperaturen, grelles Licht ) Manche Leute nehmen auch stark verändert wahr, würden diejenigen sagen, welche so wahrnehmen, wie es als mehrheitlich und korrekt gilt. Bei denen ist lediglich die Perspektive in eine, oder aus einer anderen Position des Daseins ausgerichtet, oder sie wählen sich eine unbeliebte, oder auch selten geäußerte Perspektivsicht aus, welche von anderen dann "wirr" genannt wird. Wie wir seit der Aufdröselung des Begriffs "normal" wissen, wird alles als "wirr" verstanden, was nicht innerhalb des schmalen, engstirnig kleinen Kreises landen kann, den Menschen als gängig erachten.
Beim Menschen regulieren verschiedene Ausrichtungseigenschaften der Wahrnehmung, die der einzelne von der Wirklichkeit hat, wie viel er von anderer Menschen Wahrnehmung selbst wahrnimmt. Es gibt einen äußeren Wahrnehmungsraum und einen Inneren. Wie ich später aufzeigen werde, kann diese Unterscheidung sehr wichtig sein, sorgt sie doch manchmal für erhebliche Verständnisprobleme unter Menschen, die sich bis hinauf zum Kriegsgeschehen oder dem Mord Einzelner aufschaukeln können. Sein Wahrnehmungsraum überschneidet zwar stellenweise mit dem der anderen, woraus er dann ganz nach dem bewährten Muster Minderheit unterliegt Mehrheit seine Weisheiten begründet. Das allein aber zeigt noch nicht her, wie viel, oder besser gesagt, wie wenig er von der Wahrnehmungswelt, aber insbesondere von der inneren Wahrnehmung eines anderen wirklich aufnehmen kann. Dafür haben wir unsere Ausgabe-Schnittstellen der Sinne, also wir können es ihm dank der physikalischen Eigenschaften der Luft gewissermaßen auf einigen Wegen rüberbringen. Wir können's ihm sagen, das ist der einfachste Weg. Allerdings wird der gern ignoriert oder nicht Ernst genommen, was ein weiteres Problem aufwirft, nämlich das der ausgesuchten Nicht-Wahrnehmung, von uns oft auch lapidar "Gleichgültigkeit" genannt.
Die Wahrnehmungsperspektive anderer müsste nämlich exakt auf die des jeweiligen Gegenübers ausgerichtet sein, damit sich zwei Leute ungefähr 1:1 verstehen können. Ungefähr deshalb, weil weitere, innere Instanzen wie die kognitive Assoziation und individuelle Deutung wiederum ein Quäntchen an Veränderung liefern. Redet einer 3 mm neben der Ausrichtung des anderen vorbei, kann er sich manchmal einen Wolf sabbeln, und das Gegenüber hat davon kaum einen Schimmer, was der Onkel da eigentlich meint. Ist keine Ausrichtung getroffen, ist es mehr oder weniger so, dass alle Leute um einen herum nur Bahnhof reden. Da kommen praktisch dauernd neue Züge rein und keiner versteht auch nur ein Wort bei dem ganzen Getöse. Die Unterschiedlichkeit der individuellen Wahrnehmung ist so hoch, dass sie selbst bei Gegenüberstellungen, wo wir sagen würden, dass hier die Wellenlänge passt, oder die Chemie stimmt, zu relativ unterschiedlicher Wahrnehmung voneinander Welten, jeweils besonders der inneren Wahrnehmungswelten führt. Die Interdynamik der wahrnehmungsbeeinflussenden Faktoren sorgt dafür. Bestimmte Berufe oder auch bestimmte Wahrnehmende, die sich für besonders wahrnehmungs-elegant halten, spielen mit dieser Fähigkeit.
Nun hat die Wahrnehmung den Nachteil, dass sie sich gern alles Mögliche vorgaukeln lässt. Sie ist nicht sehr wählerisch und man kann Menschen mit der Illusionsschaffung ganz schön derbe verschaukeln. Das wissen alle hier anwesenden Kollegen, die schon einmal einem Handy-Vertragsbetrüger auf den Leim gestiegen sind, aber auch die Besucher von Zaubershows und die Anhänger bestimmter Kräuterarten. Auch nehmen wirklich Wahrnehmungsverschobene alles mögliche wahr, auch was gar nicht existiert. Man könnte da die Religiösen anführen, die Psychiater, die Schizophrenen, die Hypochonder, aber auch die Synästhetiker oder solche Genossen, die sich sozusagen intensiv mit magischen Pilzen und indianischem Schamanentum abgegeben haben.
Als Synästhetiker kann ich ein wenig mitreden, denn mein Gehirn verursacht auf eine Weise der Sinneseindrucks-Verwerfung ganz bestimmte Wahrnehmungsradien, die vermutlich gar nicht in der äußeren Wirklichkeit vorhanden sind. Synästhetiker sehen abstrakte Konzepte mehrebenenhaft vor sich, bzw. werden in der Wahrnehmung wahrscheinlich die Sinneseindrücke an den Rezeptoren und Weiterleitungen durcheinander geschmissen. So erkläre ich mir das zumindest, wenn man Klänge plastisch sehen und schmecken kann, oder die Stärke einer Speisenzugabe in einem Empfindungsprofil landschaftlich mehrdimensional wahrnimmt, obwohl zum Beispiel die Geschmacksempfindung "bitter" de facto kein Aussehen, noch irgend eine Räumlichkeit besitzt. Vielleicht werden hierbei auch nur die Erst-Assoziationen in der Entwicklung des jeweiligen Bewusstseins anders verknüpft als bei der Mehrheit. Da alle Synästhetiker verschiedene Synästhesien wahrnehmen, würde ich davon ausgehen, dass das eine Variante in der Wahrnehmungsentwicklung ist. Früher fiel mir nicht auf, dass nur eine Gruppe von Menschen synästhetische Wahrnehmungen hat, und ich hielt es für selbstverständlich, dass das wohl jeder Mensch so kennt, was mir diverse, extreme Probleme im Mensch-zu-Mensch-Kontakt leider schon in Prädisposition nicht ersparte.
( Davon erzähle ich anderswo mehr )
Wahrnehmungsverschiebung kann also in massiver Weise zum gegenseitigen Unverständnis beitragen. Wir kennen das auch aus Religionskriegen und Ansichtsunterschiedlichkeiten, welche in vielen Fällen aus wirklich nichtigen Gründen zu Streit und zum Aneinanderreiben der Wahrnehmungswelten führen.
Nichts anderes ist etwa ein Streit, als ein Versuch, verschiedene Wahrnehmungswelten gegeneinander aufzuwägen, und herauszufinden, welche die größere Bestehensmacht pro Situation hat. Wahrnehmungsunterschiedlichkeit, und besonders die zusätzliche Abweichung der Perspektive, wenn sie ins Innere der Menschen vordringt, bergen ein hohes Streitpotenzial natürlicherweise in sich. Schaut ein Mensch ins Innere eines anderen und hat er dafür nur seinen Wahrnehmungshorizont parat ( kaum einer dürfte zwischen Verschiedensten virtuos hin und hertanzen können, um nach Belieben zu verwenden, welche ihm grade sinnvoll erscheint ), kann man sich das so vorstellen, als wenn man in einen mehr oder weniger klaren Tümpel blickt. Die Wahrnehmung eines Objektes am Grund wäre verschoben, als auch je nach Trübung des Gewässers mehr oder weniger obskur, mindestens verschwommen zu sehen. Zudem ist der Lichtbrechungskegel zu beachten, welcher Objekte unter Wasser anders verortet darstellt, und so unsere Wahrnehmung täuschen kann. Eine Wahrnehmungsverschiebung könnte man damit vergleichen, dass auf dem Tümpel Wellen verursacht werden. Jetzt erscheint uns ein Objekt am Grund verzerrt und formveränderlich. Jeder, wer schon einmal Fische gespeert hat, oder versucht hat, ein Objekt unter Wasser mit einem Stock zu treffen, kennt dieses Phänomen. Vergleichbar ist das zum inneren Wahrnehmungsraum des Menschen, in den ein Außenstehender bis zu gewissem Grad hinein sieht. Wie weit einer hinein blicken kann, hängt nicht nur davon ab, wie weit ihn der Andere überhaupt hinein blicken lässt, sondern auch von diesem Verschobenheitseffekt.
Nun wollen sich also zwei Leute unterhalten und verstehen, und treffen mit dieser dann auch noch je nach Situation variabel gestalteten Verständnisminderung aufeinander. Je mehr Leute sich unterhalten wollen, desto höher sind die Mengen der Verwerfungen in der Wahrnehmungsbandbreite der einzelnen. Leute, die über eine klare Kontrolle ihrer Wahrnehmungsperspektive verfügen, haben da den entsprechenden Vorteil, ihre Wahrnehmungsantennen auf den jeweils angesprochenen Gegenüber, oder auch auf Mehrere gleichzeitig einzupendeln. Eigentlich läuft das mehr oder weniger automatisch ab, ohne, dass wir es bewusst mitkriegen. Es ist einer von so vielen Abläufen, die in unserem eigentümlich aufgebauten Geschick im Umgang mit der Umwelt naturgewachsen wirken.
Meist erachten wir als untereinander wirklich, was sich aus der Überschneidungszone unserer äußeren Wahrnehmungsräume erkennen lässt. Nun machen das Religiöse unter sich, und beispielsweise auch Schizophrene unter sich aus. Wer dann jeweils einen Affen auf einem Dach eines Autos sitzen sieht, der ein Jackett trägt und Flöte spielt, oder aber auch eine verführerisch junge Marienerscheinung wahrnimmt, obwohl Jesus als Erwachsener mit anwesend ist, wird dann innerhalb dieser Wahrnehmungsüberschnitte und innerhalb bestimmter Kreise trotzdem für wirklichkeitserkennend gehalten. Andere Kreise, die diese oder so naturierte Wahrnehmungen nicht teilen können, diskriminieren dagegen, während die Kreise, die das andere wahrnehmen, oder glauben, es wahrzunehmen, ebenfalls gegen solche diskriminieren, die das nicht tun. Gerne wirft jede Gruppe der jeweils anderen vor, an die Wirklichkeit ihrer eigenen Wahrnehmung nur zu glauben, einer Sinnestäuschung oder gar Fehlerziehung, Indoktrinierung bzw. Irreführung aufzuliegen.
Hier haben wir dann das Wahrnehmungs-Unterschiedlichkeitsproblem des scheinbar äußeren Wahrnehmungsraums vor uns, während sich dieses Problem im inneren Wahrnehmungsraum dadurch in der Zahl seiner Ebenen und Nuancen exponential erhöht, indem hier die Verschobenheit des Einblickwinkels dazu kommt.
Eine innere Einigkeit zwischen zwei Menschen zu finden ist also eigentlich etwas irre Komplexes und in der Auffächerung seiner Einzelebenen eine eigentlich kaum zu meisternde Aufgabe. Trotzdem finden sich immer wieder Leute zusammen, die einander verstehen, oder das mindestens voneinander denken würden, sogar größere Gruppen und ganze Gesellschaften.
Es gibt sogar Leute, die sich so sehr gut verstehen, dass sie zusammen Kinder zeugen und noch ganz andere Kunststücke bewerkstelligen! Das sei laut manchen Zeitgenossen eine Art Wunder, aber eigentlich ist es das gar nicht, wenn man verstanden hat, welche weiteren Prozesse und interdynamisch wirkenden Abläufe da mit hineinspielen. Es gibt auch so etwas wie eine interdynamische Wahrnehmungs-Abgleichungswirkung, und je nach Wahrnehmungsgegenstand verschiedentlich hohe Wahrnehmungsminderung, die sich bis hin zu plangerichteter Manipulationsebene verwenden lässt. Menschen, die große Gruppen indoktrinieren oder in eine bestimmte Selbstwahrnehmungsbandbreite hinein ziehen, benutzen dahin ausgelegte Fähigkeiten. Zum Beispiel Wahrsager, Okkultisten, Religionsausleger, Medien, Meinungsmacher, Trendsetter, Handy-Betrüger, Werbeveranstalter auf Kaffee-Fahrten oder auch die Seminargeber bei Motivierungstraining ect. Ein Verständnis der inneren Wahrnehmungsschichten des jeweiligen Gegenüber kann nur dort stattfinden, wo ein Mensch den anderen Ernst nimmt. Ich habe das nicht nur spaßhalber fett geschrieben, aber das müsste euch in dieser Schrift irgendwann noch klar werden, falls ihr so weit mitlesen wollt.
Verständnis ist, was passiert, wenn Menschen ihre Wahrnehmungsparameter und den Wahrnehmungsausdruck auf einander einstimmen können. In dem Wort "verstehen" steckt auch die Deutbarkeit, sich an einen anderen Ort stellen zu können, nämlich an Denjenigen, den das Gegenüber einnimmt. Das heißt auch, mit dessen Augen zu sehen, aus einer anderen Perspektive hinzusehen, oder die Blickrichtung ändern zu können. Damit ist das Einpendeln der Wahrnehmungssichten gemeint, das stattfindet, wenn ein Mensch wirklich versucht, einen anderen zu verstehen. Er muss es dazu schaffen, möglichst akkurat seine Wahrnehmungsfühler in die Richtung zu bringen, die dem Strömungssignal aus der Innenwelt des anderen entspricht. Nur so kann er 1:1 empfangen, ohne dass die Verschiebungsgrade, welche ja weiterhin existieren, für mehr Unverstehen als Verstehen sorgen. Am deutlichsten sehen wir dieses Ausrichten auf einander bei verliebten Menschen, bei Mutter und Kind, zwischen Zwillingen oder bei eng Befreundeten.
Auch zwischen Aufsuchenden und Dienenden verschiedenster sozialer Aufgaben sollte sich dieses aufeinander Ausrichten der Wahrnehmungsfühler eigentlich erst gebildet haben, bevor eine wirklich sinnvolle Beratung oder Bedienung stattfinden kann.
Hiermit sind wir nicht nur bei der thematischen Relevanz zur Schrift angekommen, sondern auch beim Knackpunkt aller Wahrnehmungsunterschiedlichkeitsprobleme, die man sich nur vorstellen kann oder schlicht live erlebt. Meistens passieren hier nämlich die gröberen Verständigungsfehlerchen. Gewöhnlich wird man nicht Ernst genommen, sei es in dem, was man äußert, oder in dem, was einer denkt. Das wird einfach übersehen, oder es wird der Wahrnehmungsrahmen des anderen auf den einen niedergesenkt, und was außerhalb liegt, wird einfach abgetrennt. Genauso, wie das Unliebsame, wo es nicht gleich verborgen bleibt, sehr gern ausgeklammert oder bei Seite dirigiert wird, bevor die Wahrnehmung Desjenigen, der sich für übergeordnet hält, in die Wahrnehmung des anderen, den Derjenige als untergebenes Subjekt sieht, hineingeschoben wird. Man könnte das als Krieg im kleinen Rahmen betrachten, oder auch als Usurpation des anderen. Menschen, die gern manipulieren, nutzen diese Methode ohne irgendwelche Skrupel. Jemand, wer sich nicht ausreichend zur Wehr setzen kann, entwickelt in der Situation, wo solch eine Ignoranz- und Überplättungsstruktur langzeitlich vorkommt, ein Hörigkeitsverhalten, oder resigniert irgendwann. Vielleicht nimmt er nicht wirklich auf, was die ihn dominierende Person alles auf ihn einschüttet, und das kann noch die mindest mögliche Art sein, sich durch Gegenignoranz passiv zu verteidigen. Oft aber werden so Sklaven aus Menschen gemacht, relativ bekannt geworden unter dem Phänomen der Hörigkeit der geschlagenen Frauen, die trotz aller Brutalität und Eklatanz ihrer Beziehungspartner zu diesen Männern halten. Eine Hörigkeitssituation kann überall dort auftreten, wo man Menschen entweder subtil unterwerfen oder von sich abhängig machen kann. In einem gehäuften Vorkommen gibt es das auch in der Homo-Szene zwischen älteren, sich spendabel zeigenden Männern und meist sehr jungen, entweder drogenabhängigen oder sozial verarmten, manchmal auch sozial ausgehungerten "Boys", die sich dann auf äußerst fragwürdige Beziehungsmuster einlassen. Wahrnehmungsunterschiedlichkeit, Begrenzung ihrer Vermögenstragweite und Verständigungsfehler wirken hier in einer tragischen Weise so zusammen, dass sich eine Annäherung der Parteien nur unter ungleichmäßigen Bedingungen ergeben kann. Einer zahlt einen hohen Preis, gibt einen großen Teil seiner Würde auf, um einem anderen als Objekt nutzbar zu werden, oder um sich in dessen Gunst aufgehoben fühlen zu können. Für seine Unterwürfigkeit erhält er Versorgung, oft finanzielle Notlinderung, Unterkunft. Im großen Stil passiert es etwas diffuser gelagert bei den Religionen und insbesondere diversen Sekten, wobei dem ein aufwändig ausgeführtes und detailliert ausgeschmücktes Übergebäude an Verlockung, Einführung und von hohlen Versprechungen bekränzte, scheinbare Seelsorge vorangeht. Wie alle Relativen mit Berührungspunkten zum Menschenleben ist auch die Wahrnehmungsintensivität oder ihre Gewichtung verschiedener Wahrnehmungsebenen und Teilbereiche individuell einzigartig vereigenschaftet. Man kann immer nur einen gruppeninternen Konsens dazu bilden, welche Stärke oder welcher Grad an Wahrnehmungstiefe der Reguläre sei. Im Grunde genommen sagt dies nichts darüber aus, wer der bessere Wahrnehmer ist als ein anderer. Man kann sich bestenfalls daran orientieren, dass sich die üblichen Verdächtigen, also Suchtzusammenhang, Substanzmissbrauch, Manipulation und Wahrnehmungsverschobenheit bzw. –invalidität oder –einschränkungen auf die Wahrnehmung qualitätsmindernd auswirken.
Probleme verursacht eine gezielte Wahrnehmungsverminderung oder auch Wahrnehmungsschulung, so positiv sich so etwas zunächst anhören kann, weil man zu vereinfachen sucht, sich durch das wahnsinnig weit gestreute Tohuwabohu der Wahrnehmungs – Einzelaspekte durchzuackern versucht.
Ein geschmälertes Wahrnehmungsfeld unter dieser hehren Regie führt oftmals zur Auswirkung, dass man die Wahrnehmungsfelder anderer, oder deren Vermittlung ihrer Wahrnehmung nicht mehr genügend berücksichtigt.
Auch dann tritt ein verhängnisvolles Ungleichgewicht in der Wahrnehmungs – Gegenseitigkeit auf, welches die gegenseitige Ausgewogenheit nicht mehr gewährleisten kann. Eine Person wird durch die andere dominiert oder ignoriert, teilweise übergangen und oft genug nicht Ernst genommen. Warum beschreibe ich gerade diese Eigenschaften im Bereich Mensch-zu-Mensch-Kontakt? Weil es gerade unter den reaktiv Depressiven oder vorherrschend melancholisch naturierten Menschen prominent vorkommt, in der Auseinandersetzung mit ihren Lebensläufen eine so große Rolle spielt, Ernst genommen, gehört und wirklichkeitsgerecht verstanden zu werden. Oft genug erleben wir das nicht einmal bei den Professionellen. Es soll die Kritik aber nicht wieder schwerpunktartig auf Psychoberufler ausgelegt sein, denn jeder Mensch, der ernsthaft versucht, einen anderen zu verstehen, ist in diesem Vorgehen auch ein wenig Psychologe.
Hier geht es mir allein darum, Verstehen und Verständnis nicht darauf aufzubauen, dass ein Mensch dazu gebracht wird, das für richtig und wahr zu halten, was der andere denkt, sondern dass jeder mit seiner Wahrnehmung und dem, was er davon dem anderen erzählt, als Versierter seiner selbst gesehen wird, und nicht als eben dann so gern verschobenes, verrücktes armes, kümmerliches, in Einbildung oder Selbstmitleid versunkenes Wesen abgeheftet wird, das möglichst noch unbedingt irgend eine Therapie nötig hätte. Oder am besten gleich 3 Verschiedene. Glücklicherweise ist das Drängen oder Hineinschwatzen in solche Maßnahmen im Lauf der Zeit auch mehr und mehr kritischen Hinterfragungen zum Opfer gefallen, und wurde wohl irgendwann auch als der falsche Gehweg erkannt. Ein Mensch, egal welcher Herkunftswege, sollte immer selbst entscheiden können, ob, wann oder in welcher Tragweite er sich so etwas auswählen will. Manchen Menschen bringt es immerhin viel. Das Problem der Wahrnehmungsunterschiedlichkeit stelle ich auch deswegen als besonders wichtig zu bedenken hervor, weil es ob der Selbstverständlichkeit, in der es Viele erkennen wollen, gern zwischen den Tischfugen durchrutschen kann, sozusagen.
Es wird zur Belanglosigkeit erklärt und darüber hinweggesehen, wenn hier Fehltritte auffällig werden, aber das Bagatellisieren in diesem Metier geht immer auch mit der Gefahr Hand in Hand, erneut die Nichtbeachtung zu fördern. Wer glaubt, die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungsebenen nicht berücksichtigen zu müssen, um andere Menschen verstehen zu versuchen, der kann unter Umständen schnell Verheerendes anrichten, oder aber er nähert sich keiner Verständigungsbrücke. Solche kommen nämlich dadurch zustande, indem man den Wahrnehmungsfokus in seiner Stärke mit dem der anderen Person abstimmt, ohne ein Kontrollieren, sich selbst angleichen oder gar nach Belieben zurechtschneiderndes Uminterpretieren der Aussagen und Vermittlungsgegenstände anderer durchzuführen.
Es dürfte inzwischen einleuchten, dass die Wahrnehmungsunterschiedlichkeit zwischen nicht reaktiv depressiv oder vorherrschend melancholischen Leuten und Solchen erhebliche Ausmaße erreichen kann. Die Relation zum jeweiligen Wahrnehmungsinhalt muss mit bedacht werden. Auch hier gilt meines Erachtens das individualspezifische Prozentsatzprinzip, also die je nach Situation und je nach Mensch verschieden hohe Gewichtung verschiedener Aspekte. Der Fehler, der hier am meisten gemacht wird, ist die Annahme, dass die nicht so naturierte Wahrnehmungssicht die Wahre sei, während die der reaktiv-depressiven Person die Verzerrte sein soll. Wahrnehmungsverzerrte nennen uns viele Leute, aber mit einem unterschwelligen Meinungston versehen, der uns als nicht so ganz Ernst zu nehmen weiterreichen soll, und das ist die bereits beschwichtigte Version davon, was uns meistens real gesagt wird. Im Überhang der Erfahrungen werden wir gerne als bekloppt, krank oder sonst wie erlebniswertgemindert empfunden, falls wir wirklichkeitsgemäß aus unserer Lebenserfahrung und auch Wahrnehmung berichten. Dem folgend wird uns oft noch eine Uneinsichtigkeit zum Erkennen davon angeheftet, in deren Kontingent das uns zugedachte Krankheitsbild einfließt. Wirklichkeitsgemäßes Berichten hieße in etwa, dass wir uns ohne die "Maskierung" mitteilen könnten, was die meisten von uns so aber nie machen würden, oder es auch gar nicht beherrschen, sich ihrer Innenwelt und derer Wirklichkeit zu sehr schämen, als dass sie darüber mit vielen Leuten je reden würden, welche Gefühlsregungen und Gedankenwelten dies Dasein herbeibringt. Die Scham- und Schuldkomplexe dürften da ganz ähnlich wirken, wie das aus der Innenwelt von Menschen mit anderen, in der Gesellschaft unliebsamen Erlebniswelten beschrieben wird. In unserem Fall ist die "Maskierung" aber ohnehin vielfältig zum einzigen Instrument geworden, unter dem wir uns überhaupt noch Gehör verschaffen können, ohne gänzlich ignoriert, für lächerlich oder krank befunden, oder irgendwie bedauert zu werden. Gerne werden wir in so einer bereits erheblich gestutzten Vermittlung unserer Selbstwahrnehmung zurück hinter die Ränder der Maskerade noch immer als übertreibend empfunden. Manchmal unterstellt man uns auch die Projektion eines verfälschten Bildes zum Übertriebenen hin, um so irgendwelche hintergründigen Motive durchringen zu können. Was davon dann stimmt, ist vielleicht ja diese gewisse Verfälschung der Darstellung der eigenen Wirklichkeit durch Verbergen und Drosseln ihrer wahren Ausmaße, das gebe ich gerne zu. Man verfälscht aber üblicherweise eher hin zur starken Untertreibung, anstatt zu übertreiben. Das Traurige an der Sache ist es dann, dass nicht reaktiv-Depressive oder Nicht-Melancholische solche Berichte um so übertriebener wahrnehmen. Wahrnehmungsprojektion nenne ich dann einen Versuch, der es beinhalten kann, sowohl die Wahrnehmung eines anderen zu beeinflussen, der aber auch bedeuten kann, dass man seine Wahrnehmung nur noch unter dem Umstand einigermaßen wirklichkeitsgemäß vermitteln kann, dass man Unter – oder je nach Fall auch Übertreibungen findet. Umso weniger Gehör man erhält, desto weiter hinab- oder hochgetrieben wirkt die Selbstvermittlung in so einer Situation. Es ist wie ein Versuch, immer noch lauter zu sprechen, je mehr sich das Gegenüber weigert, das Ausgesagte zu akzeptieren. Man beginnt in der Erfahrungsfortfolge negativer Kontaktsituationen erst allmählich damit, das Bild, welches man anderen von sich vermittelt, zu deren Erwartungen hin zu gestalten. Im Grunde genommen fängt so erst die Maskierung selbst an, denn sie ist nach allem Durchlebten aus dem Schorf hervorgegangen, den die Gruben und Furchen des Leids hinterlassen, durch das man im Leben in jungen Jahren gespült wurde. Das Drosseln oder Beschneiden des Selbstbilds hin zur Erwartung anderer umschreibt ein nach innen weiterreichendes Maskieren und Beschorfen, das Untertreiben wirkt gleichsam nach außen beschorfend, während das Übertreiben in den Situationen, wo man ignoriert wird, die Funktion hat, sich über die Ignoranz durch andere hinweg Aufmerksamkeit, wenn nicht nur Zeit, Gehör, Gefühlszugang oder soziale Registrierung, schlichte Duldung zu sichern.
Aus meinen Kontakten mit anderen Melancholischen und reaktiv-Depressiven, aber auch den Leuten, die aus anderen Gründen gern übertreiben ( etwa Borderliner,Wichtigtuer, Aufmerksamkeitshaschende, Geltungsbedürftige ... ) kann ich nur herleiten, dass dieses Verhalten ein Versuch ist, sich über den umgebenden Lärm mit noch lauterem Rufen Verständnis zu verschaffen, sich aus einer Menge von auf Zehenspitzen balancierenden Menschen dadurch zu erheben, indem man auf den Zehen nur eines Fußes steht, weil man dann vielleicht 1 cm größer als die unzähligen anderen Ignorierten wirken kann. Es geschieht aus innerster Verzweiflung darüber, nicht wahrgenommen oder fehlwahrgenommen zu werden, verkehrt gedeutet oder völlig missverstanden zu werden. Wahrnehmungswelten werden so auch aktiv gestaltet, und vielerorts kann es sogar notwendig sein, um überhaupt Verständnisrefugien auftun zu können. In einer sozial unter Einwirkung der Mechanismen des Kapitalismus erkühlenden, modernen Gesellschaft nenne ich es diesbezüglich kein Wunder, wenn sich mehr und mehr Menschen diese Masken zulegen und daran fast durchgehend herumfeilen, pinseln und beschönigen, und das zur Folge hat, dass sich kaum noch ein Mensch wirklichkeitsgemäß mitzuteilen wagt. Das ist eine sehr traurige, aber auch bezeichnende Wirkung dieser Epoche, die meines Erachtens mit der Leistungskraft und – bereitschaft der Menschen, aber auch ihrer vielschichtigen Ertragensfähigkeit von Lebenseinschnitten Expander spielt. Die Wahrnehmungsproblematik wird dadurch um viele Ebenen erhöht, denn um wirklichkeitsgemäß wahrnehmen zu können, muss sich auch der Verständnisbereite dem Verständnissuchenden über Lasten und Moränen aus Vorgegebenem und Verfälschtem erst hinweg arbeiten. Das bedarf Zeit und Geduld. Weil die Kapitalistenwelt durch ihre Zeitschinderei dazu hin auch noch ein Hektikgebahren entstehen lassen hat, welches sich aus der Arbeits- und Produktionsebene bis herab in die Lebensbandbreite der Menschen hinein fortsetzt, und dem Gewinn-Momentum am anderen Eingang brav die dankbare Pranke zum Gruß ausstreckt, ist dafür auch immer weniger Zeit für den Einzelnen übrig. Das Durchkämpfen durch die Moränenlast der Maskerade, und nicht zuletzt der Versuch, Menschen wirklich und ernsthaft zu verstehen, das erfordert aber gerade ausgedehnte Zeitnahme, ausführliche Gespräche und sehr viel Geduld, es kann nur in einer beträchtlichen Langsamkeit überhaupt aufgearbeitet werden. Wo aber kein Mensch mehr diese Zeit zur Verfügung hat, bzw. dies heute jedem Glauben gemacht wird, müssen wir uns nicht fragen, warum wir so sehr viele Menschen mit Problemen haben, und warum es fast unmöglich geworden scheint, sich für ein ausführliches, auch stundenlanges Gespräch einmal frei und gemütlich zusammen zu setzen, um solche Zusammenhänge mit einer würdigen Detailbetrachtung zu beleuchten, und um etwaig zu erörtern, welcher Umgang damit am meisten Sinnvolles erbringt. Gegen die immer mehr künstlich geschmälerten Zeitrahmen der modernen Epoche kämpfe nicht nur ich mit dieser Schrift als Solcher an, welche sich dem Kurzfassungsautomatismus enthebt, der für immer weniger Worte pro Buch in der Heutzeit dem weiteren Zeitschinden huldigt. Wahrnehmen ist mithin davon abhängig, ob man sich zuerst Zeit dazu nimmt, um vernünftig wahrnehmen zu können. Huscht man am Leben vorbei, um eine Dreitausendstel Sekunde eher am Ziel zu sein als der Schnellste, wird man diese Zeit zum Wahrnehmen nicht finden können. Das Geheimnis einer maximalen Wahrnehmung liegt in der Langsamkeit ihres Geschehens verborgen. Würde ich dieser Menschenwelt eine Empfehlung mit auf den Weg geben dürfen, dann wäre es jene, sich aller Uhren und Terminplaner zu entledigen, und mit einem neuen Gefühl für die Vergänglichkeit der Sekunde auf eine von Zeitdruck befreite Reise in die Erfahrungswelt des Langsamen zu begeben. Menschen, die gern meditieren, kennen eine relativ hastige Wahrnehmung davon, was Langsamkeit bedeutet. Sie haben ja nur 1 –3 Stunden dafür Zeit, und das ist sehr wenig im Vergleich zum Langsamsein. Wenigstens 3 Monate sollte man sich schon dafür frei nehmen, das ist ungefähr so viel Zeit, wie sie eine gewöhnliche Gartenschnecke benötigt, um 5 aneinanderliegende Viehweiden zu durchqueren, und schon dabei schrillen im modernen Menschen alle verfügbaren Alarmglocken, und beim up-to-date zeitgemäß funktionserfüllenden Hightech- Menschen auch noch ein paar Virtuelle davon. Schon das würde nicht gehen, weil man hier und da abhängig von etwas ist. Schon hat man die nächste Problematik entdeckt, man müsste dafür nämlich erst einmal ein freier Mensch sein. Fällt euch was auf, ihr freien Menschen? Dadurch frei, dass ihr von allen möglichen Dingen abhängig seid, die es euch nicht einmal gestatten, einen Tag lang langsam zu sein, oder 3 Monate lang dem Gras beim Wachsen zuzusehen?
Doch weiter, ich war bei der Wahrnehmung und beim Schlüssel zum Verständnis des anderen. Die Wahrnehmungsverfälschung könnte nur in einer Welt beseitigt werden, welche auch die Gleichgültigkeit oder soziale Diskriminierung von Andersempfindenden, nicht nur Andersdenkenden und Anderssehenden hinter sich gelassen hat. Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es einer sozialen Annäherung der Menschen untereinander, die aktuell durch eine weiter fortschreitende Hektisierung, den Wertezerfall und ein soziales Ausbeutungsmuster, das zur offiziell legitimierten Demütigung der schwächsten Schichten führt verhindert wird.
Annäherung unter den einzelnen Gesellschaftsebenen wäre in einem klassenlosen Austausch zwischen den Schichten zu sehen, das heißt, ein Obdachloser müsste jederzeit verstehen lernen können, welche Wahrnehmungswelt ein Manager kennt, und der Manager müsste die Wahrnehmungswelt des Obdachlosen ebenso verstehen wollen. Dass wir uns hier auf ziemlich irrealistischem Niveau bewegen, dürfte klar sein, denn welche Not besteht beiderseits dazu? Wahrnehmungsausgleich könnte aber auch schon dadurch stattfinden, dass sich die Gesellschaftsschichten austauschen, die Erfahrungs- und Wahrnehmungswelten anderer Gruppen und Schichten veranschaulichen. Mit dem Bewusstsein darum, wie es etwa in der Welt einer Großfamilie mit 13 Kindern zugeht, oder auch in der anderen Welt einer beispielsweise querschnittsgelähmten, älteren Dame, oder vielleicht bei einer jungen, berufstätigen Single-Karrierefrau, oder auch bei einem junggeselligen Landwirt, der mehr oder weniger allein seinen Hof umtreiben muss, könnten sich die Ignoranzhaltungen gegenüber der jeweils unbekannten Wahrnehmungswelt schon lichten. Ein dahingehend orientiertes Schulfach würde ich nicht übel finden – so etwas wie Projektwochen im Fach Gemeinschaftskunde und Sozialethik wäre denkbar. Abseits davon könnte man die Wahrnehmungsverschiedenheit der Wahrnehmungsfelder der einzelnen Personen vergleichen, und die Unterschiede näher begutachten, auch um zu sehen, woher diese Unterschiede rühren. Wahrnehmungsbereicherung könnte der Schlüssel zur Aufhebung der Wahrnehmungsunterschiedlichkeit im Groben sein, dort, wo die großen Verfehlungen stattfinden, und wo Menschen unter der Dominanz der Ansichten anderer vegetieren und sich selbst unterdrücken müssen, um wahrgenommen zu werden. Wahrnehmung und Wahrnehmungsunterschied spielen in jedem Lebensinhalt eine essenzielle Rolle. Unsere Natur ist es, die eigene Wahrnehmung stets als die einzig Echte zu empfinden. Der Clue dabei ist, dass das im Selbstbezug oft stimmt, aber in der Betrachtung anderer sehr dehnbar ist. Es führt mithin dazu, dass man Menschen belächelt oder ignoriert, deren Wahrnehmungswelt anders beschaffen ist, als die Eigene. Das solltet ihr nicht vergessen, das sollte auch ich nicht vergessen, und zuletzt sollte man trotz allem Synergetischen in der Verständnisfindung die Wahrnehmung des anderen von der Eigenen getrennt halten, während man sich an der Schnittmenge gern verbinden kann. So sollte einer gegenseitig gleichauf ausgewogenen Verständigungsmöglichkeit am wenigsten Geröll im Wege liegen.