Telepathetic schrieb:
Ich stelle mir vor, dass der ESM ganz bewußt gestaltet ist, die Souveränität der Nationen abzuschaffen, um Kriegen jedweder Art, also ob medial geführt oder mit Soldaten, vorzubeugen
"Echte" Kriege, also mit Waffen und Tod, sind im gegenwärtigen Europa ja durch die supernationale Organisationsform der EU unmöglich, und so lange diese besteht, und den Europäischen Flohsack zusammenhält, wirds auch keinen Krieg geben. Was aber, wenn die EU zerbricht? Wenn eines Tages, in einer vielleicht nicht mehr ganz fernen Zukunft, die integrative Kraft dieser Organisation als einigendes Band nicht mehr ausreicht, um die Spannungen zwischen den Ländern, die ja gerade durch die EU klarer denn je zutage treten, und die zum Teil erst durch die Europäische Integration verursacht oder doch zumindest verschärft wurden, abzumildern? Es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass sowas passiert, sonst brennts ganz schnell in der europäischen Peripherie - und vielleicht auch mitten in Europa. Dafür darf eigentlich kein Preis zu hoch sein. Das Dumme ist, dass vor allem Deutschland den Preis bezahlen muss und aller Wahrscheinlichkeit nach auch wird. Ich halte es durchaus für möglich, dass wir recht bald an einen Punkt gelangen, an dem der Preis für die Bewahrung und Aufrechterhaltung des Status Quo schlimmer und unerträglicher sein kann, als der "Sprung ins Dunkle" mitsamt seinen Folgen.
Griechenland ist schon jetzt auf absehbare Zeit in Ketten gelegt und es ist ungewiss, ob sich daran überhaupt was ändern wird. So lange Griechenland exorbitante Schulden schultern muss und dabei die Staatsausgaben explodieren, während die Einnahmen sinken, ist nicht damit zu rechnen, dass wir es noch erleben werden, dass Griechenland wieder auf die Beine kommt. Die einzig gangbaren Alternativen für Griechenland wären ein großzügiger Schuldenschnitt oder der Austritt aus der Eurozone, um durch die folgende Inflation die Schulden zu entwerten. In jedem Fall also eine ganz besondere Kapitalvernichtung, die den Rest von Europa hart treffen wird.
Aber gerade letzteres ist politisch nicht gewollt, weil dadurch ja das Einigungsprojekt infrage gestellt würde. Also träumen wir weiterhin unseren europäischen Traum auf Kosten von Millionen von Menschen, die deswegen auf Jahrzehnte hinaus in bitterer Armut leben müssen.
Die Sache mit dem Aufkauf von faulen Staatsanleihen in unbegrenzter Höhe halte ich für den komplett falschen Weg. Der ESM ohne Limit hat in seiner Anlage das Potential, das Europa, das wir kennen, binnen weniger Monate auszulöschen. So lange die Bonität der Bürgen in der Summe ausreicht, um Kredite zu akzeptablen Konditionen zu bekommen, kann das funktionieren, aber was, wenn dadurch auch die Tragfähigkeit der Bürgen überstrapaziert wird? Dann reisst uns dieses System in den Abgrund. Klar, Frankreich und Italien sind für ein solches System, aber auch nur deswegen, weil ihnen bereits das Wasser bis zum HAls steht (Italien) und sie davon profitieren, während Deutschland irgendwann alleine für ganz Europa gerade stehen muss (was es nicht kann!). Vielleicht abgesehen von Finnland und Estland gibts momentan in der EU kein Land, das nicht bereits nah an der Grenze seiner Belastbarkeit angelangt ist. Sicher, hier und dort ließen sich noch einige Milliarden rauskitzeln, aber das ist angesichts der ungeheuren Kapitalvernichtung, die im Gange ist, kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Man würde die notwendigen Entscheidungen nur um ein paar Tage hinauszögern.
Meiner Ansicht nach muss früher oder später ein Befreiungsschlag erfolgen, eine Neuordnung Europas auf einer sinnvollen Grundlage. Das Europa, das wir heute haben, ist nichts weiter als ein Haus, an dem 100 Architekten Details konstruiert haben, ohne jemals das Ganze betrachtet zu haben. Und beim Bau hat man zuerst die Ziegel in die Luft gehängt, dann ein Gebälk unter die Ziegel genagelt um dann unter dem Dach ein Fundament, das nur aus Wasser, aber nicht aus Zement besteht, zu gießen, ohne einen Keller auszuheben...
Ich finde dass, wenn wir das europäische Projekt bewahren wollen, was ja nach ansicht mancher durchaus im Interesse der Völker Europas liegen könnte, dies kaum auf evolutionärem Weg geschehen kann. D.h. die jetzt vorhandenen strukturellen Grundlagen sind vollkommen ungeeignet, um aus der Bürokratendiktatur einen demokratischen Bundesstaat zu machen. Alles andere kann aber nicht auf Dauer funktionieren.
Aber das größte Problem, das dem Projekt der europäischen Einigung im Wege steht, ist ein ganz pragmatisches, das man eigentlich garnicht lösen kann: Es gibt keine europäische "Nation". Die Völker Europas sind nicht bereit, auf Gedeih und Verderb eine Schicksalsgemeinschaft einzugehen. Das beweist ja die gegenwärtige Krise.
Die Völker Europas verbindet, mal davon abgesehen, dass sie auf dem gleichen Kontinent wohnen, garnichts. Keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Kultur, keine gemeinsame Geschichte... Ja selbst in der Stunde der Krise sind die Völker Europas entzweit, obwohl sie eigentlich an einem Strang ziehen sollten.
IM Falle der Entstehung der Nationen im 19. und 20. Jahrhundert existierten diese Probleme nicht in dieser Form: Es gab in allen Punkten einen kleinsten gemeinsamen Nenner, über den Identifikation und Zusammengehörigkeitsgefühl hergestellt werden kommte. Nationen sind zwar eine Erfindung, ein theoretisches Konstrukt, aber ihnen liegt doch die unumstößliche Wahrheit zugrunde, dass sie nicht beliebig sind, sondern dass das, was eine Nation definiert real und existent ist. Über diesen Umweg wird die Nation faktisch zu einer realen Größe, auch wenn sie im Ursprung ein Gedankenkonstrukt ist. Das erkennt man zb. an solchen "Nationen" wie Belgien, die zwar seit 180 Jahren bestehen, aber dennoch enorme innere Spannungen (Wallonen vs. Flamen) aufweisen, weil der Identifikationsrahmen nicht ausreicht.
Es stellt sich daher die Frage, ob Europa jemals funktionieren kann, oder ob man nicht, in der Eurphorie des "postnationalen" Zeitalters in der vermeintlichen Überwindung nationaler Strukturen übersehen hat, dass Nationen, auch wenn sie eine Erfindung des Bürgertums des 19. Jahrhunderts sind, dennoch als identifikationsmuster und Interpretationsrahmen allgemein bestand haben. Man nahm nach 1945 an, dass die Nation nur ein Zwischenschritt im Entwicklungsprozess hin zur "europäischen Nation" sei. Was aber, wenn die Nation bereits den Endpunkt der Entwicklung (Hinsichtlich der numerischen Größe einer Identifikationseinheit) markiert, bzw ab da die Entwicklung in komplett andere Bahnen, zb. Regionalisierung läuft? Für letzteres gibts ja durchaus einige überzeugende Indizien.
Es gibt in Europa absolut garnichts, was auch nur im Ansatz integratives Potential aufweist. Selbst die Währung, die ja in der Regel immer Identifikation stiftet, entzweit eher, als dass die eint.
Edit:
Die Gelddruckmaschine wird scheinbar angeworfen werden. Dann heißts jetzt also festhalten und beten.
Vielleicht ist der Albtraum dann in ein paar Monaten vorüber, wenn der autokatalytische Selbstvernichtungsprozess heiß gelaufen ist.
Wie soll man notorische Verschwender dazu bringen, Geld zu sparen und notwendige Reformen durchzuführen, wenn man ihnen Geld in praktisch unbegrenzter Menge zur Verfügung stellt? Das heißt doch nix anderes wie "Augen zu und weitermachen!".