Vom Einfluss der Industrielobby auf die Europapolitik

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Die meisten Menschen glauben immer noch, die Politik der EU würde von den Regierungen der Mitgliedsländer oder auch dem Europäischen Parlament bestimmt.
Weniger bekannt ist die Rolle und die Macht der EU-Kommission in Brüssel; die Art und Weise, wie ihre politischen Entscheidungen tatsächlich zustande kommen.

Eine große Rolle spielen dabei die Lobbyverbände der großen europäischen Konzerne, die schon seit Jahren maßgeblich die Politik der EU-Kommission mitbestimmen. Neben UNICE (Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände in Europa), TABD (Trans-Atlantic Business Dialogue) usw. ist der European Roundtable of Industrialists (ERT) eine der einflussreichsten Interessenvertretungen, die seit seiner Gründung ungehinderten Zugang zur Europäischen Kommission hat.

Der ERT wurde bereits 1983 gegründet. Ihm gehören 48 Mitglieder der größten europäischen Konzerne, wie z.B. Bayer, Bertelsmann, British Petroleum, Daimler Chrysler, E.ON, Ericsson, Fiat, General Electric, Hoffmann-La Roche, Lufthansa, Nestlé, Nokia, Petro Fina, Philips, Pirelli, Renault, Shell, Siemens, Telekom, Total und VW an, die sich alle das Ziel gesetzt haben, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft auf den Weltmärkten zu stärken. Neben Unternehmern aus der EU sitzen auch Vertreter schweizerischer, ungarischer, norwegischer und türkischer Unternehmen am Tisch. Es ist nur den größten Konzernen in jedem Land der Europäischen Union erlaubt, Mitglied zu werden; und eine Mitgliedschaft erhält man in diesem reichen und exklusiven Klub nur auf Einladung. Da sich unter den Mitgliedern auch ehemalige EU-Kommissare befinden, verfügt der ERT über einen optimalen Zugang zur Europäischen Kommission.

Die ERT-Mitglieder beraten sich regelmäßig in Arbeitsgruppen, in denen es um die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen, industrielle Beziehungen, Bildung, Beschäftigungspolitik, die Erweiterung der EU, Umweltstandards, Steuersysteme Europas oder außenwirtschaftliche Beziehungen geht. Gefordert werden schwächere Umweltgesetze; Privatisierungen in den Bereichen Bildung, Gesundheitssystem, Energie, Telekommunikation und Transport sowie weiterer Steuerabbau für die Wirtschaft.

In regelmäßigen Abständen veröffentlicht der ERT allgemein zugängliche Schriften zu diesen Themen. Gemeinsam ist diesen Veröffentlichungen ein einheitliches Bild der zukünftigen Wirtschaft in Europa:
Der ERT bzw. die für ihn in Think-Tanks zusammenarbeitenden Experten propagieren eine Aufteilung in „Hardware“ und “Software“, die bezeichnenderweise auch “Humanware“ genannt wird. Handelt es sich hier bei der „Hardware“ um die Infrastruktur der EU, so ist mit „Software“ der arbeitende und konsumierende Mensch gemeint, bei dem es sich aus der Sichtweise des ERT um die einzige natürliche Ressource handelt, die dem wirtschaftlichen Europa auf Dauer zur Verfügung steht.

Das Hauptinteresse des ERT liegt in der Weiterentwicklung und Erweiterung der EU, da nach ihrer Vorstellung Europa ein riesiger Binnenmarkt ist, auf dem der freie Waren-, Kapital-, und Dienstleistungsverkehr höchste Priorität hat und an dessen Ende die Europäische Union eine Weltmachtstellung einnehmen soll. So trägt der Maastricht-Vertrag - dessen Ziel die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des organisierten Europas ist - die Handschrift des ERT, der sich ebenfalls für die Einführung des Euro einsetzte, da die großen Handelskonzerne von einem Wegfall nationaler Währungssysteme besonders stark profitieren. Hier ist auf die "Lissabon-Strategie" hinzuweisen, auf die sich die europäischen Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 verständigten, die das gemeinsame Ziel - Europa bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu gestalten - beinhaltet.

Es ist also kein Zufall, dass die Agenda von Bundeskanzler Schröder den Zusatz „2010“ erhielt. Die Agenda 2010 ist ein EU-Programm der Harmonisierung des europäischen Wirtschaftsraums unter der Leitlinie der Konzerne. Mit den gleichen Forderungen, mit denen BDI und BDA die deutsche Gesellschaft auf ihren neoliberalen Kurs einstimmen, beherrscht die EU-Industrie-Lobby, die durch den ERT repräsentiert wird, den Diskurs auf Ebene der EU: Lebenslanges Lernen, Investitionen in die Forschung, Privatisierung, Deregulierung, „Reform“ der Steuer- und Sozialleistungssysteme sowie der Arbeitsmärkte usw.

Nachdem im Jahr 1989 der Ostblock zusammenbrach, verstärkte der ERT seine Bemühungen, die EU nach Osten auszudehnen. Man erwartete riesige Gewinne durch einen Markt von 150 Millionen Menschen und immense Investitionsmöglichkeiten in Osteuropa. Im Dezember 1997 legte eine ERT-Arbeitsgruppe dem EU-Gipfel in Luxemburg ihren Aktionsplan zur Osterweiterung vor. Als Vorbedingung für die EU-Integration wird in diesem Aktionsplan eine „radikale ökonomische Transformation der Kandidatenländer“ verlangt. Dabei geht es konkret um die Förderung der Konkurrenzfähigkeit zwischen ost- und westeuropäischen Firmen, von der beide Seiten angeblich "nur profitieren würden". Um diese Vorstellung zu fördern, errichtete der ERT in den zentral- und osteuropäischen Ländern sogenannte Business Enlargement Councils (BECs). Um es mit den Worten des damaligen ERT-Generalsekretärs, Wim Philippa, zu sagen: „Es ist ein Erziehungsprozess, wo wir in enger Zusammenarbeit mit den nationalen Regierungen die nationalen Industrien dieser Länder führen, trainieren, und schnell dazu bringen, dass sie der europäischen Union beitreten können.“

Dadurch wird eine erhebliche Einflussnahme auf die Gestaltung der Wettbewerbspolitik und der industriellen Standards in Osteuropa gesichert. Die Gründe, warum der ERT die Erweiterung unterstützt, sind offensichtlich: So äußerte sich der Siemens-Chef, Heinrich von Pierer, 1995 folgendermaßen: „Die Personalkosten liegen in der CSFR gerade bei fünf bis zehn Prozent von denen in Deutschland. Die Leute sind gut ausgebildet und es gibt dort eine gewachsene Industriekultur. Wenn wir jetzt noch die Produktivität steigern und die Qualität auf unser Niveau erhöhen, dann haben wir dort eine fast unangreifbare Wettbewerbsposition - und zwar für den Weltmarkt.“ Beflügelt von den Erfolgsbilanzen des Konzerns wurde bereits angekündigt, im Zuge der Osterweiterung weitere Teile seiner Software-Entwicklung und Fertigung dorthin verlagern zu wollen. Auch andere Großkonzerne sind seit Jahren dabei, in den geöffneten Märkten des Ostens aufzukaufen, was gute Rendite verspricht. Das sind in erster Linie Telekommunikationsnetze, kommunale Wasserversorger und Staatsbetriebe.

Auch der Verkehrswegeplan der EU bezieht sich deutlich auf ERT-Veröffentlichungen - besonders auf die Berichte „Missing Links“ und „Missing Networks“, in denen große, neue europäische Infrastrukturprojekte zusammengefasst werden; so die „Euro-Route“ - eine Verbindung zwischen Frankreich und Großbritannien unter dem Ärmelkanal - das „Scanlink“, ein Plan, die Straßen- und Schienenlücken zwischen Norwegen, Schweden, Dänemark und dem nördlichen Deutschland zu schließen und die Vorschläge für ein transeuropäisches Netz von Hochgeschwindigkeits-Schienenverbindungen.

Angesichts der hohen Anzahl an Automobilunternehmen, die im ERT vertreten sind und solchen, die vom Transportnetz abhängig sind, ist auch diese Initiative zum Ausbau des Verkehrsnetzes nicht verwunderlich.

Die Einflussnahme auf EU-Kommissare geht auf unterschiedliche Weise vor sich. Es finden regelmäßige Treffen mit dem Kommissionspräsidenten der EU statt; ebenso halbjährliche Treffen mit der Regierung, die gerade den Vorsitz im Rat inne hat, in denen die ERT-Mitglieder ihre Ideen, Konzepte und Vorschläge zur Sprache bringen. Peter Sutherland, Vorsitzender von BP, macht aus diesen Zusammenhängen gar kein Geheimnis: „Man kann behaupten, dass nicht die Regierungen die Durchführung des Binnenmarktkonzeptes anregten, sondern der "Round Table" und seine Mitglieder ...“.

Darüber hinaus üben die im ERT vertretenen Unternehmen auf nationaler Ebene Einfluss auf ihre jeweiligen Regierungen aus. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass z.B. ein Peter Hartz, Personalvorstand von VW, dessen Konzern mit am „European Roundtable of Industrialists“ sitzt, zugleich als Berater von Bundeskanzler Schröder und Initiator der Arbeitsmarktreformen Hartz I-IV fungiert. Auch die sogenannten „Nebenverdienste“ von Politikern in großen Konzernen sind in diesem Zusammenhang zu sehen. So wird dafür gesorgt, dass die Interessen der Unternehmen auf die eine oder andere Weise berücksichtigt werden und die Politik auf nationaler und EU-Ebene nach den Vorstellungen des ERT mitgeprägt wird.

Man beschränkt sich allerdings nicht nur auf Wirtschaftspolitik im engeren Sinne; es geht dem ERT um eine fundamentale Umstrukturierung der Gesellschaft nach neoliberalen Prinzipien, um den globalen Wettbewerb als höchsten Wert an sich.

Das macht auch vor dem Bildungswesen nicht halt - damit der Mensch zur „Humanressource“ wird, muß er entsprechend ausgebildet werden, weshalb der ERT das Konzept des "Lifelong Learning" in die Debatte geworfen hat.

Im März 2001 sprach der Runde Tisch eine Reihe von Empfehlungen an die Union aus, um ihre Wettbewerbsfähigkeit in der Wissenswirtschaft zu stärken. Damit unterstrichen die Unternehmer die Bedeutung, die die Union dem lebenslangen Lernen zukommen lassen sollte. Die Bedeutung des lebenslangen Lernens wurde in Form von zehn Empfehlungen dargestellt. Damit soll ein „neues Europa“ geschaffen und die Entstehung eines „neuen Europäers“ begünstigt werden. Dieser sollte „fähig sein, Unternehmensgeist zu entwickeln“; sowohl als Angestellter als auch als Bürger - um Fähigkeiten, wie Kreativität, Innovation, Flexibilität, Teamarbeit und Wissensdrang auszubilden. Dies gilt im Hinblick auf die Schulen (Neuorganisation der nationalen Bildungssysteme) und auf die Arbeitswelt. Unter den Bedingungen der globalen Konkurrenz würden die europäischen Konzerne zurückbleiben, wenn man das gesamte Bildungswesen nicht umstrukturiere und die Menschen darauf vorbereite, dass eine abgeschlossene Lehre oder ein Studium ihnen keine Berechtigung mehr für einen Lebensarbeitsplatz gibt.

So verlangt der ERT eine Partnerschaft zwischen Bildungsanstalten und Industrie, in denen diese Einfluss auf Lehrpläne und Bewertungssysteme nehmen kann. Schulen müssten sich nach den Anforderungen der Industrie ausrichten und Universitäten die Zusammenarbeit mit der Industrie als einen Teil ihrer Hauptaufgaben annehmen. Bildung wird in denselben Kontext wie Management, Produktion, Vertrieb und Verbraucher gestellt. Das individuelle Recht auf Bildung (Menschenwürde, freie Entfaltung, Chancengleichheit) wird abgeschafft. „Kundenorientierung“ bedeutet dann nicht die Ausrichtung auf die Interessen der Schülerinnen und Schüler, sondern gilt den Wünschen der Wirtschaft. Staatliche Einrichtungen - wie Schulen und Universitäten - sollen nicht mehr staatlichen Behörden, sondern einer Anstalt öffentlichen Rechts oder einer Stiftung untergeordnet werden. Während das Kostenrisiko (Gehälter, Gebäude, Sachmittel) weiterhin der Staat bzw. die Kommune trägt, sollen zunehmend private Träger, die angeblich effektiver arbeiten, die Leitung übernehmen und Gewinne machen.

Durch normsetzende Vergleiche (ranking) und eine marktorientierte Steuerung sollen Kosten reduziert und die Effizienz gesteigert werden. Das geht natürlich stets mit Personalabbau einher. Die Beschäftigten sollen bei erhöhter Arbeitszeit ohne Lohnausgleich und gleichzeitig ausgedünnter Personaldecke flexibler (anpassungsfreudiger), disponibler (verfügbarer), deregulierter (mit geringeren Rechten ausgestattet), selbstständiger (selbst verantwortlich), kompetenter (für alles einsetzbar) werden.

Ergebnis der Privatisierung ist immer auch eine Verschlechterung der (Dienst-)Leistung für den Bürger bei deutlich höheren Preisen. Für die privatisierte Bildung bedeutet dies: Elitebildung für Wenige und „Sozialpädagogik für die breite Masse“.

Das „lebenslange Lernen“ soll gefördert werden; insbesondere, indem die Industrie in europaweite Initiativen integriert wird. Hier wird Bildung nicht als eigenständiger Wert, sondern als Mittel zur Herausbildung einer „Humanressource“ beurteilt, die den Zielen der Industrie entspricht.
Es geht nicht darum, ein „Recht auf Bildung“ zu etablieren - es ist vielmehr ein Versuch, die Ressource Mensch so lange wie möglich arbeitsfähig zu erhalten. Bildung wird explizit als eine bloße Funktion des Binnenmarktes - genauer gesagt - des Arbeitsmarktes definiert. Der Mensch soll durch ständiges Weiter- und Umlernen auf den neuesten Stand von Technik, Management und Kommunikationsstrukturen gebracht werden. Das Wissen als Wettbewerbsvorteil für ein längerfristiges Überleben soll im Mittelpunkt stehen. Die Verantwortung, dafür mehr Größe zu erlangen, wird den einzelnen Individuen übertragen. Um in der Wirtschaft Fuß zu fassen, muss jede Person dazu fähig sein, menschliches Kapital zu bilden und dieses Kapital während ihres ganzen Lebens weiterzuentwickeln, um somit ein effektiver Bürger und Produzent zu bleiben.

Die Vorstellungen des ERT haben sich inzwischen in allen EU-Ländern soweit durchgesetzt, als dass die gesamten Bildungs,- Steuer,- Arbeitsmarkt,- und Sozialsysteme ihren einzigen Daseinszweck nur noch in der Förderung der Marktfähigkeit sehen.



Links:

A report from the European Round Table of Industrialists:
Education for Europeans- Towards the Learning Society
www.ert.be/pdf/edu2.pdf

www.ert.be

evakreisky.at/onlinetexte/prenner.pdf

www.jungewelt.de/2004/08-17/004.php
 

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