Depressionen: Ein Tabuthema?

Simple Man

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Nach dem Selbstmord Robert Enkes ist ja allenthalben über das Tabuthema psychische Erkrankungen im Allgemeinen und Depressionen im Besonderen zu lesen. Nun scheint es so, dass psychische Erkrankungen in ihrer Gesamtheit zunehmen, also vermehrt Menschen daran erkranken. Gleichzeitig aber ist es wohl immer noch so, dass sich nur wenige Betroffene öffentlich dazu äußern wollen bzw., dass nur wenige Menschen etwas davon hören wollen.

Es stellt sich hier für mich zunächst die Frage, ob es wirklich so ist, dass Menschen vermehrt an Depressionen und psychische Erkrankungen leiden? Falls ja, woran könnte das dann liegen? Ist es ein gesellschaftliches Problem? Schaffen es die Menschen bzw. zunehmend mehr von ihnen, nicht mit den Umwälzungen in der Gesellschaft – sei es im Arbeitsleben, sei es in der Freizeitgestaltung – umzugehen und diese psychisch-gesundheitlich zu verarbeiten? Oder könnte es sein, dass man heute nur bessere Diagnose-Methoden hat und daher die Krankheitsfälle nicht zugenommen haben, sondern nur besser erkannt werden? Dafür könnte sprechen, dass die Zahl der Suizide rückläufig ist, wobei hierfür natürlich auch bessere Medikation als Erklärung herangezogen werden könnte. Als dritte mögliche Erklärung wäre natürlich auch denkbar, dass es gar nicht mehr psychische Erkrankungen gibt – es werden nur immer neue definiert und was früher als normal galt, dass gilt heute als psychisch krank. Wie seht ihr das?

Darüber hinaus muss gefragt werden, ob psychische Erkrankungen und vor allem Depressionen wirklich ein Tabuthema sind? Empfindet ihr das so? Habt ihr da unter Umständen schon eigene Erfahrungen gemacht? Und wie seht ihr psychische Erkrankungen, wie seht ihr Depressionen? Und wenn das Thema ein tabuisiertes ist, welche Möglichkeiten gibt es, dies zu ändern? Von Seiten des DFBs gibt es ja Überlegungen, psychiatrische Betreuungsangebote einzurichten, bei denen sich die Profis dann anonym behandeln lassen können – doch wie soll bitte eine Enttabuisierung vonstatten gehen, wenn alles auf anonymer Basis erfolgt? Müsste es nicht vielmehr möglich sein, dass Thema offen anzusprechen, ähnlich wie man einen Muskelfaserriss anspricht?

Was den Fall Enke angeht, muss ich persönlich sagen, dass ich es erschreckend finde, dass ein depressiver Mensch sich eine solche Schutzmauer, quasi eine Maske zulegen kann, dass er sogar die Ärzte über seinen Zustand täuschen kann. Ist das ein Anzeichen für schlechte Ausbildung? Müsste einem Arzt nicht möglich sein, so was zu durchschauen? Mir ist natürlich bewusst, dass es immer auch der Kooperation des Patienten bedarf – dennoch, ich gestehe, dass ich diesen Aspekt mit am schlimmsten finde. Dass jemand scheinbar so gefestigt wirkt, auch bedingt durch den Beruf, innerlich aber so stark leidet und es – vor allem am Schluss – fast niemand bemerkt. :?
 

Glaurung

Meister
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Was den Fall Enke angeht, denke ich dass die Leute das sehen ,was sie sehen wollen. Erfolgreicher Sportsmann, glücklich verheiratet, hat den Tod seiner Tochter "relativ gut" verkraftet und ein Kind adoptiert. Endlich Nationaltorwart kurz vor einer WM. Da rechnet doch niemand mit sowas.
Allerdings wer schaut denn auch genauer hin?
Wir kratzen doch heute eher an der Oberfläche was andere Menschen die uns nicht wirklich nahe stehen angeht und man sieht ja auch nur so viel von einem Menschen wie dieser auch preisgeben will.

Was Depressionen an sich angeht finde ich es den falschen Ansatz soetwas mit der chemischen Keule anzugehen. Ich bin kein Psychater und maße mir nicht an zu wissen wie sowas am besten behandelt wird.
Kann ja sein, dass manchen Leuten mit Medikamenten geholfen werden kann. Aber soetwas generell mit Psychopharmaka zu behandeln ohne auf die Ursachen einzugehen bringt die Leute doch nur dazu unter Drogen durchs Leben zu laufen. ist das wirklich sinnvoll?
 

Semiramis

Großmeister
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Eine "psychische Erkrankung" kann man nicht einfach auf einen Menschen drauf-definieren. Natürlich ist unter allen Menschen nicht jeder gleich, eine psychische Krankheit liegt jedoch erst vor, wenn die Verfassung des Menschen diesen bei dem Ausleben eines relativ glücklichen Lebens behindert.
Psychopharmaka sind keine "Lösung", zumindest ist imho die Zahl derer, bei denen eine psychische Erkrankung physische, chemische Ursachen hat, ungemein gering. Sie können einen Menschen in akuten problematischen Phasen jedoch stabilisieren bzw. die Aufarbeitung der Ursachen in eine Lebensphase verschieben, in der weniger Probleme von außen auf die Person einwirken. Sie sollten jedoch keine Dauer"lösung" werden.
Das wesentlichste bei der Behandlung bleibt letztlich die Aufarbeitung der Ursachen, Gespräche, bei denen es dem Menschen gelingt, die Ursachen zu erkennen und neu für sich zu verarbeiten, um die alten Verarbeitungsmuster, die der Depression zugrunde liegen, zu überschreiben.
So gesehen, trifft die alte Bezeichnung als "Seelenklempner" die Arbeit des Psychologen schon ganz gut. Depressionen und psychische Erkrankungen funktionieren anders als "handfeste Krankheiten": Grippe z.B. hat man entweder oder hat sie nicht, die Ursache lässt sich relativ einfach lokalisieren. Dass ein Mensch bei der Verarbeitung von äußeren Einflüssen scheitert, ist ein relativ normaler Vorgang, ob es sich dann auch als "Krankheit" manifestiert, hängt auch von der schwere der äußeren Einflüsse ab und von vielen anderen Faktoren, einem sensiblen Zusammenspiel aus der eigenen Persönlichkeit (stabiler oder instabiler) und den eigenen Verarbeitungsstukturen von Erlebtem. Bei "psychischen Krankheiten" kann ein Psychologe helfen, und zwar bei allen Facetten von (um im BIld zu bleiben) "kurzzeitig krank" über "ein bißchen krank" bis hin zu "längerfristig krank"...
Soviel zur Theorie, ich weiß, dass das in der Realität nicht immer so läuft...

Zu dem konkreten Fall:
Die Hintergründe in diesem Fall werden wir wohl nicht erfahren. Es kann so viele Gründe gehabt haben, warum das so aus dem Ruder gelaufen ist, da wird spekulieren durch uns als völlig Außenstehende nicht weiterhelfen...

Generell: Dass ein Mensch einsieht, dass er Hilfe braucht (ich sage jetzt bewusst nicht "dass er krank ist", weil das von allen Facetten nur einen Teil berücksichtigt), ist schon ein wichtiger Schritt dahin, dass ihm geholfen werden kann. Aber machen wir uns nichts vor, es gibt generell schon einige schlechte Psychologen, und wenn jemand einen Psychologen für sich sucht, muss auch die Chemie zwischen diesen beiden Menschen stimmen. Letztlich kann man aber jedem Menschen nur bis vor den Kopf schauen, wenn jemand in sich verschlossen ist und die äußeren Anzeichen keine Hilfe sind, kann es leider durchaus passieren, dass dem Arzt die Schwere der Depression nicht klar wird. Es gibt einen Zusammenhang, dass viele der Menschen, die sich leider erfolgreich umbringen, am wenigsten davon gesprochen haben. Auch sind Depressionen ja nicht immer konstant, es kann einem Menschen an einem Tag relativ gut gehen, und er kann selbst glauben, dass er seine Situation nun wieder weitgehend im Griff hat, und dann bricht im nächsten Moment das zarte Haltegerüst wieder weg und er fällt in ein tiefes dunkles Loch, in dem die Dinge für ihn anders aussehen, aus dem es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. In solchen Momenten ist Hilfe von außen unersätzlich, die dem Menschen verdeutlicht, dass es einen Ausweg gibt und dass er dabei ist, Dinge zu tun, die er, wenn er kann, bereuen würde, wenn er sich wieder mit anderen Augen sieht.

Gruß,
Semis
 

Giacomo_S

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Teresa Enke unterlag nach eigener Aussage demselben Trugschluss, dem oft Lebenspartner von psychisch kranken Menschen unterliegen und auf den ich auch schon hereingefallen bin: Dass die Liebe, so nur groß genug, schon alles richten werde.
Aber das gibt es so nur in Hollywood-Filmen. Die Realität sieht anders aus.
 

Lt.Stoned

Großmeister
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Was Depressionen an sich angeht finde ich es den falschen Ansatz soetwas mit der chemischen Keule anzugehen. Ich bin kein Psychater und maße mir nicht an zu wissen wie sowas am besten behandelt wird.
Kann ja sein, dass manchen Leuten mit Medikamenten geholfen werden kann. Aber soetwas generell mit Psychopharmaka zu behandeln ohne auf die Ursachen einzugehen bringt die Leute doch nur dazu unter Drogen durchs Leben zu laufen. ist das wirklich sinnvoll?

eigentlich wollte ich nichts zu dem thema schreiben, aber die aussage fand ich ganz interessant. zusammengefasst eigentlich "ich hab zwar keine ahnung wovon ich rede, aber ich finds irgendwie scheisse".
also. generell werden depressonen einerseits durch medikamente und andererseits durch eine therapie behandelt. heute antidepressiva kann man nicht wirklich so beschreiben, dass man "unter drogen" durchs leben läuft. klar verändern sie etwas in einem, aber das betrifft hauptsächlich zb eine antriebssteigerung, um eine therapie wirklich anzugehen/durchzustehen, und das eigene leben wieder auf die reihe zu bekommen. eine depression ist keine verstimmung! viele depressive kriegen ihr leben nicht mehr auf die reihe, haben angst davor aufzustehen, sind demotiviert noch überhaupt irgendetwas anzugehen, usw. dazu kommt (hoffentlich) noch eine stimmungsaufhellende wirkung der medikamente. klar wäre es schwachsinn eine depression auschließlich so zu behandeln, aber wie gesagt wäre der übliche weg eine kombination aus medikamenten und therapie.
und ich kann nur aus eigener erfahrung sagen, man wird weder zu einem anderen menschen, der vielleicht seine wahren gefühle unterdrückt, oder was psychopharmaka noch so vorgeworfen wird, oder zu einem gefühllosen zombie oder sonst etwas, sondern in bestimmten fällen sind antidepressiva eine gute sache um einen aus einem loch wieder rauszubringen und sein leben wieder in die eigene hand zu nehmen.
 

InsularMind

Erleuchteter
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Ich erlebe es eigentlich eher so, dass viele Leute alles, was mit depremierenden Gefühlen und Eigenschaften zu tun hat, automatisch in die Kategorie schlecht, unerwünscht werfen, und jede Depremiertheit bereits als "Depression" bezeichnen. Eine Unterscheidung der verschiedenen Depressionsformen findet selbst bei etwas beleseneren Leuten kaum statt.

Was mich auch stört ist der beinahe automatische Behandlungsdrang, den Leute empfehlen, wenn man sich nicht dauerhaft heiter oder optimistisch bewegt fühlt, ganz egal, ob nun Anzeichen einer Depression erfüllt sind, oder auch nicht.
Als Tabuthema erlebe ich es weniger, aber weil die Menschen selbst genug Probleme um den Kopf haben, lehnen sie bekennende Depressive häufig ab, oder das Gespräch, die Bekanntschaft mit ihnen wird ihnen zuviel. Bei den klinischen Depressionsformen kann man das durchaus nachvollziehen. Wenn man davon mehrere Bekannte hat, zehrt das mit der Zeit ganz schön an den Ressourcen. Für die Betroffenen ist jedes negierbare Erlebnis umso schlimmer in der subjektiven Erfahrung, so donnern auch die vielen Abweisungen und Ablehnungen heftiger bei denen ein. Ein nicht depressiver Mensch hat einen besser funktionierenden Schutzwall, sozusagen, eine balancierte Verträglichkeit der vielen täglichen Begebenheiten, wo etwas nicht so richtig hinhaut, fällt der nicht gleich in ein Loch, oder wenn es mal traurige, negative Erfahrungen gibt.

Depressive ziehen sich gern schon von selbst zurück, meiden Kontakte, stellen ihren Tagesrhythmus ein, Aktivitäten werden immer weniger, das Leben reduziert sich auf das Notwendige. Manche schaffen aber nicht einmal mehr das zu bewältigen, was einem Nichtbetroffenen leicht fällt. In den heftigeren Phasen werden die Betroffenen leise, fallen in sich, man kann es sogar am Gang, an der Körperhaltung erkennen. Manche verlieren jeglichen Antrieb, sitzen nur noch lethargisch herum, der Weg vom Bett zum Tisch fällt ihnen zu schwer, warum noch aufstehen, wenn der Tag schon halb vorbei ist...und sie versinken in Gedankenkreisen und Grübeldrang. Diese Verhaltensweisen unter dem Einfluss von Depressionen tun vielleicht ihren Teil dazu, dass man die Depression als Tabu-Thema wahrnimmt. Weil niemand gern darüber redet, weil es ein Thema ist, mit dessen unangenehmen Inhalten man sich lieber nicht beschäftigt. Weil es dafür doch Fachleute gibt, die sowas besser können.

Dann gibt es noch die ganzen Hemmungen, die in der Gesellschaft über das Thema psychisch krank immer noch weit verbreitet sind. Psychisch krank wird häufig als Schwäche verstanden, von einfacher strukturierten Zeitgenossen auch unter "bekloppt" oder sogar "Simulantentum" abgehakt.

Zum anderen steht dann die Medikamentierungsfrage im Raum. Leute, die Pillen für etwas Psychisches nehmen, werden argwöhnisch beäugt. Bekennende Depressive bekommen oft Schwierigkeiten, haben weniger Chancen im Beruf, gegen sie wird wegen den diagnostischen Einordnungen in so einigen Lebensbereichen diskriminiert. Ein Depressiver gilt als nicht ganz zurechnungsfähig, so, wie man das auch bei anderen psychischen Problematiken ganz gern an den Kopf geschmissen bekommt. Auch deswegen verschweigen viele lieber, dass sie depressiv sind. Eine gewisse Tabuisierung findet also schon aus der Natur der Depressionen und im Zusammenhang mit dem typisch verbreiteten Umgang her statt. Ich würde aber sagen, dass die Popularität der Psychowissenschaften, sowie erklärender Medien schon dazu beigetragen hat, dass die Menschen heute besser informiert sind, sich auch eher mit solchen Themen zu beschäftigen wagen.

Für das Totmedikamentieren der Symptome bin ich nun auch nicht unbedingt, aber ich weiß, dass der diffuse Begriff von Liebe, oder ein wenig gutes Zureden so viel oder wenig bringen, wie wenn sich jemand Subliminal-Tapes reinzieht oder vielleicht literweise Johanniskraut-Tee trinkt. Es ist halt von Fall zu Fall unter Umständen sehr verschieden, welche Faktoren da mitwirken. Ich vertrete eigentlich mehr die Ansicht der Multifaktor-Ursachen, wo es keine endogenen Marker wie Serotonin-Wiederaufnahme-Probleme, Ausschüttungsinsufizienz oder vielleicht Schilddrüsen-Ungleichgewichte gibt.
Bei den Leuten, die von einem desolaten Lebensumstand her depressiv werden, nützen Medikamente eher wenig, oder sie verändern die Wahrnehmung, aber der desolate Zustand in der Wirklichkeit bleibt vorhanden. Da muss man eben sehr differenziert herangehen.
Den medikamentös zum Dauergrinsen gebrachten Zombie mag ich auch nicht sehen.
 

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