Zur Geschichtsschreibung als solcher möchte ich zunächst einmal ein Zitat voranstellen:
"Tatsächlich gibt es auch bis zum heutigen Tage kein einziges Geschichtswerk, das in dem geforderten Sinne objektiv wäre. Sollte aber ein Sterblicher einmal die Kraft finden, so etwas Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch große Schwierigkeiten machen: denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen."
Egon Friedell, Kulturgeschichte der Menschheit (1931)
fumarat schrieb:
Aus meiner, also aus der Sicht eines gläubigen Muslims, sehe ich in solchen Debatten immer eine Schwierigkeit, gerade im deutschsprachigen Raum. Die sogenannten wissenschaftlichen Debatten zum Thema laufen meist aus einem atheistischen und gelegentlich auch aus einem christlichen Blickwinkel. Das heißt, die islamische Sichtweise wird meist gar nicht zugelassen oder ist zumindest stark unterrepräsentiert. Verantwortlich hierfür ist natürlich auch eine aktuell sehr schlechte Aufstellung geeigneter islamischer Theologen, bei weitem nicht nur aber gerade im deutschsprachigen Raum.
Kürzlich fand ich in einer Stadtbücherei ein "populärwissenschaftliches" Buch zum Koran, seiner Entstehungsgeschichte und der Frühgeschichte des Islams eines offenbar muslimischen Autors.
In vielerlei Hinsicht unterschied es sich nicht von mir anderen bekannten Quellen. Deshalb nicht, weil es ganz selbstverständlich die Doktrinen bediente, ohne die eine Darstellung der genannten Themen aus der "islamischen Sichtweise" nicht auszukommen scheint:
- Die
wörtliche stattgefundene Überlieferung des Korans, und weil das für bestimmte Zeiten schwierig zu belegen ist: Die "Gedächtniswunderkünstler", die vor den ersten schriftlichen Fixierungen dazu anscheinend notwendig waren.
- Die
Koran-Kopien des Uthman von denen sich eine noch heute im Topkapi-Museum in Istanbul befinden soll. Was einfach nicht stimmt, denn die Koran-Kopie in Istanbul ist definitiv jüngeren Datums.
- Die
islamische Expansion, eine abenteuerliche Geschichte der Siege zahlenmäßig weit unterlegener, aber mutiger Heere mit gelegentlichen (unbedeutenden) Rückschritten.
fumarat schrieb:
Etwas erstaunlich finde ich das die BPB den in Orientalistenkreisen sehr umstrittenen Herrn Ohlig, einen mittlerweile knapp 80jährigen emerittierten Professor für katholische Theologie als Referenz zitiert. Der wiederum in dem seit Jahren bekannten Bermudadreieck der fundamentalen deutschsprachigen Islamkritik mit stark katholischer Färbung Ohlig-Puin-Luxenberg seine Kreise zieht.
Die Autoren mögen umstritten sein, was aber ihre historischen Ausführungen betrifft, so sieht für mich die Sache anders aus.
Der Zeitraum des 6.-9. Jhs. ist historisch eine "dunkle Epoche", nicht nur, was den Orient betrifft. Es gibt für diesen nicht so viele Belege wie für andere Zeiten. Das lässt Spielraum für Interpretationen und Spekulationen.
Andererseits habe ich die
wörtliche Überlieferung des Korans, die
Gedächtniswunderkünstler, ja sogar die
islamische Expansion selbst, den islamischen Autoren einfach mal so
zu glauben, denn wirklich
belegen lässt sich das alles nicht. Das mag als fromme Legende für den gläubigen Muslim ausreichend sein, mich persönlich überzeugt das aber nicht.
Die historische Argumentation des Ohlig, der sich immerhin auf die wenigen Quellen zu beziehen versucht, die es für diese Zeit gibt, Schriften, Münzen, Kunstgegenstände, Bauten - mag vielleicht nicht die einzig "richtige" sein, für mich hat sie aber einen Vorteil: Sie bemüht sich wenigstens da um
Plausibilität, wo islamische Autoren von mir seeliges Abnicken erwarten.
Sie kommt
ohne Gedächtniswunderkünstler, Koran-Kopien die nicht existieren, und Schlachten, die mutmaßlich nicht stattgefunden haben, aus.
Es ist doch schon merkwürdig, dass die historischen Autoren der damals von der islamischen Expansion betroffenen Länder über alles mögliche berichten, Klatsch, Tratsch, theologische Dispute, nur über eines nicht: Das Auftauchen einer neuen Religion und deren kriegerische Verbreitung. Aber auch Münzfunde und kulturelle Artefakte aus diesen Zeiten stützen diese Sichtweise nicht.
Was von der "islamischen Sichtweise", zumindest derjenigen, die man in deutscher Sprache erfährt, übrig bleibt, sind Räuberpistolen und fromme Geschichten. Und praktisch alle, die aus den eigenen Reihen davon abzuweichen wagen, werden mit Verfolgung, Folter und Tod bedroht. Aber nicht nur die: Luxenburg wird gute Gründe dafür gehabt haben, unter Pseudonym zu veröffentlichen. Die islamische Welt hat offenbar keine anderen Antworten - warum eigentlich nicht? - als mit Drohungen oder Gewalttaten.