Neben den Pyramiden und den kolossalen Statuen sind wohl die Obelisken diejenigen Denkmäler, in denen sich dem modernen Geist "Altägyptisches" am typtischsten verköpert. Selbst ohne das Land am Nil bereist zu haben, wird doch jedermann die drei genannten Denkmälergruppen ohne weiteres dem pharaonischen Erbe zuorden: das Wissen darum ist zum selbstverständlichen abendländischen Kulturgut geworden. Die Aneignung freilich erfolgte keineswegs synchron und geradlinig: die Gegenständlichkeit der kolossalen Königsstauten erlaubte den nachpharaonischen Völkern keine konstruktive Auseinandersetzung, geschweige denn eine Übernahme dieser gewiss eindrucksvollen Monumente in die eigene Kultursphäre. Erst durch ihr Auffinden in originalen Kontexten seit dem 19. Jahrhundert sind sie als Symbol ägyptischer Kunst in unser Bewusstsein gerückt. Die über Jahrhunderte währende Einschränkung der Reisemöglichkeiten in den Orient hatte die Pyramiden, deren Bedeutung für den ägyptischen Totenkult der Antike bekannt gewesen war, zu mystischen Monumenten verklärt, einer Vorstellung, vor der wir uns bis heute nicht ganz frei machen können. Das Mittelalter sah in ihnen die Kornkammern, die Pharao auf Geheiss Josephs hat anlegen lassen, ohne sich über ihre wahre Gestalt und Grösse Rechenschaft abzulegen. Pyramiden hatten sich lediglich durch ähnlich gestaltete Nachbildungen in
Rom
erhalten.
Einzig die Obelisken sind dem Abendländer im Original allezeit vor Augen geblieben. Der Umstand, dass sie aus Hartgestein monolitisch geschlagen sind, und ihre einfache Form erlaubten bereits der Antike, viele von ihnen ohne übermenschlichen Aufwand nach Europa zu verbringen. Zunächst als reine Siegestrophäen verstanden, wurden sie- infolge ihrer abstrakten Form - schon bald in andere Sinnkontexte transportiert. Die Römer stellten sie in den Circus, als "Zeiger" auf die Sonnenuhr, vor Mausoleen oder direkt auf Gräber. Die altägyptische Weise der Aufstellung, nämlich ausschliesslich vor Tempeln, findet in Rom ihre Entsprechung in den
Isis-Heiligtümern
der Stadt, wo sie als Evokation des ägyptischen "genius loci" den Tempeln "authentisch"-ägyptisch" machen sollten.
Hier in Rom haben sie sich in den Ruinen der Stadt in einem Fall sogar noch aufrecht stehend, erhalten. Bei der Erneuerung Roms zum Zenturm der Christenheit sollten diese Monumente einer neuen Aufgabe zugeführt werden. Wieder war es ihre zeitlos abstrakte Form, die sie -Zeugen ältester Zeit- zu Sinnträgern im Dienst des universellen Christentums prädestinierte. Darüber hinaus spielen sie im urbanistischen Konzept der Renasissance und des Barock eine wesentliche Rolle als dekoratives Element. Sie erfuhren somit ihre zweite Reaktualisierung und entfernten sich weiter von ihrer ursprünglichen Bedeutung.
Was diese einmal war, konnte erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt werden, nachdem Napoleon Bonapartes Ägyptenfeldzug den Weg zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der pharaonischen Kultur frei gemacht hatte. Jetzt werden wieder Obelisken über weite Distanzen aus Ägypten geholt, um die Städte der neuen Industrieländer zu schmücken. Aber diesen Bemühungen liegt das Wissen um ihr Alter und ihre Bewandtnis zu grunde und sie werden als wirkliche Botschafter des Alten Ägypten eingesetzt. Der Obeliskengedanke wurde ein letztes Mal im grossen Stil exportiert, wobei zunehmend "Nachempfindungen" an die Stelle der ägyptischen Originale traten, die in ihrem Dimensionen und Implikationen über das Vorbild bisweilen weit hinaus gehen konnten.
Dr. Christian E. Loeben
Quelle:
http://www.obelisken.com/Re.htm