Interessante wissenschaftliche Artikel

hives

Ehrenmitglied
Registriert
20. März 2003
Beiträge
3.651
Als wissenschaftliche Ergänzung zu den "interessanten Links" können nun in diesem Thread speziell interessante Artikel aus Fachzeitschriften gesammelt und diskutiert werden, wobei erstmal alle Fach- und Themengebiete willkommen sind. Falls Diskussionen ausufern sollten, können sie ausgelagert werden, aber generell soll dieser Thread auch als Gesprächsanregung und -grundlage dienen.

Wer auf einzelne Artikel nicht direkt online zugreifen kann, sollte es mal über die nächste Unibib versuchen.

Dann starte ich mal mit:
Hodson, G. & M.A. Busseri (2012). Bright Minds and Dark Attitudes. Lower Cognitive Ability Predicts Greater Prejudice Through Right-Wing Ideology and Low Intergroup Contact. Psychological Science 23(2), 187-195.
 

Telepathetic

Großmeister
Registriert
16. Oktober 2010
Beiträge
764
Zu 'Bright Minds and Dark Attitudes":
Ich lese aus dem Text heraus, dass nicht die Vorurteile gegenüber den Mitgliedern irgendeiner von der eigenen Gruppe verschiedenen Gruppe ein Problem sind, sondern das Beharren auf dem einseitig negativen Bild, das mit der anderen Gruppe verknüpft ist. Niedrigeres abstraktes Denkvermögen verstärkt die Tendenz, den Abstand zur anderen Gruppe aufrechtzuerhalten. Es fehlt an zwischenmenschlicher Kontaktaufnahme zu den Anderen, die Gemeinsamkeiten zutage fördern könnte und damit zu Entspannung zwischen den Gruppen führen würde.

Folgt man dieser Logik, dann würde die Begründung des Verhaltens von Politikern als rein machterwerbs- und erhaltungsmotiviert abgeschwächt. Die Politiker, die sich wahlkämpferisch auf die Bekämpfung einer anderen Gruppe konzentrieren (siehe auch der Folk Devil) sprechen tatsächlich mit der Stimme des ihm oder ihr zugewandten Teiles der Bevölkerung. Die Stereotype des unschuldigen vom bösen Politiker verführten Volkes kann nicht aufrechterhalten werden. Es ist nämlich genau jenes* unschuldige Volk, dass dem Politiker seine Macht bestätigt.

Fraglich ist, ob der im Text angesprochene niedrigere g-Faktor der Intelligenz in irgendeiner Weise erhöht werden kann. Bildungsorientiertes und kritisches Lesen und Miteinanderreden? Wie aber könnten z.B. die Mitglieder der bildungsfernen Schichten zu dieser Art des Lesens und Miteinanderredens angeregt werden? Und was ist, wenn der g-Faktor feststeht? Würde es helfen, einseitig positive Stereotypen in die Welt zu setzen?


(* Ich habe "dieses" durch "jenes" ausgetauscht.)
 

Themis

Erleuchteter
Registriert
20. Dezember 2004
Beiträge
1.412
Das Buch ist mir schon von einigen Leuten empfohlen worden, durch Deinen Beitrag brenne ich jetzt förmlich darauf, es zu lesen :)
 

haruc

Ehrenmitglied
Registriert
16. Dezember 2002
Beiträge
2.494
Telepathetic schrieb:
Fraglich ist, ob der im Text angesprochene niedrigere g-Faktor der Intelligenz in irgendeiner Weise erhöht werden kann.

Die Antwort dazu lautet (nach meinem Kenntnisstand): Nein.

Der Generalfaktor der Intelligenz 'g' ist nach dem heute gängigen Modell der Intelligenzforschung der in der Hierarchie höchste und damit abstrakteste Messwert für kognitive Leistungsfähigkeit. Er setzt sich aus verschiedenen Einzelfaktoren (Verbale, visuelle, mathematisch-logische Fähigkeiten usw.) zusammen, die jeweils wieder weiter differenziert werden können.

Bei der Entwicklung der individuellen Intelligenz ist beachtenswert, dass der jährliche Zuwachs des Generalfaktors 'g' (um im Schnitt 6 Punkte, wenn ich mich nicht irre) sehr stark mit der Dauer der Beschulung korreliert. Das bedeutet: Entweder gehen Leute, die eine genetische Disposition zu einem hohen 'g' haben, länger in die Schule, oder es ist so, dass jemand, der länger die Schule besucht, einen höheren Zuwachs des Generalfaktors 'g' erreichen kann.

Weiterhin ist dabei zu beachten, dass in der Regel Schüler, die ein Jahr später eingeschult wurden, im vergleich zu ihren Altersgenossen, die "normal" eingeschult wurden, einen unterdurchschnittlichen 'g'-Wert aufweisen.

Der Zuwachs an Intelligenz scheint also eine Kombination aus "außerschulischer Stimulation" und Beschulung zu sein. Schulische Bildung und Erziehung befördert also die Entfaltung von Intelligenz. Je länger und je mehr Schule, umso höher der am Ende erreichte Generalfaktor 'g' (Man beachte: Diese Aussage bezieht sich auf eine Population, es können also individuelle Abweichungen auftreten.)

Diverse Studien haben nun gezeigt, dass Versuche, die Intelligenz durch gezieltes "Intelligenztraining" zu erhöhen, fehlschlagen oder keinen in Relation zum betriebenen Aufwand sinnvollen Gewinn aufweisen. Sprich: Außerschulisches Intelligenztraining ist Zeitverschwendung. Die Zeit sollten Kinder lieber zur Leibesertüchtigung nutzen, da wäre sie weitaus sinnvoller investiert.

Das legt wiederum den Schluss nahe, dass das Zuwachspotential von 'g' mit der "natürlichen" Entwicklung plus der Beschulung bereits mehr oder weniger ausgeschöpft ist.

Folgerungen: Den durchschnittlichen Generalfaktor 'g' einer Population könnte wahrscheinlich man nur dadurch sinnvoll erhöhren, dass mehr Individuen länger beschult werden. Das Gegenteil ist leider der Fall in unserem Bildungssystem: Beschulungszeiten werden verkürzt. Der Rückschritt vom G9 auf G8 verringert demnach den durchschnittlichen IQ eines Abiturienten um 4-6 Punkte. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die Verkürzung der Beschulungszeit auch die Lehrpläne "gestrafft" wurden, was nichts anderes bedeutet, als dass Fächer, die man als "weniger wichtig" ansieht, noch kürzer kommen, als ohnehin schon. Dabei sind ja gerade die "Nebenfächer" diejenigen Fächer, die einen wesentlichen Beitrag zur ethischen, moralischen und weltanschaulichen Entwicklung des Schülers leisten.

Edit:

Bildungsorientiertes und kritisches Lesen und Miteinanderreden? Wie aber könnten z.B. die Mitglieder der bildungsfernen Schichten zu dieser Art des Lesens und Miteinanderredens angeregt werden?

Man müsste solchen Menschen die relevanten Inhalte in einer Verpackung anbieten, in der sie die Inhalte auch annehmen. Das ist in der Theorie schön, in der Praxis hässlich.

Jede Situation (beim Aldi an der Kasse, RTL Nachmittagsfernsehn, Spaziergang im Wald, Lesen eines Buches....) hat theoretisch die Anlage dazu, einen Lerneffekt auszulösen. Ob das jeweilige Individuum nun diesen Lerneffekt auch tatsächlich erfährt, hängt größtenteils am Individuum selbst: Wie wird die Situation wahrgenommen: Was kenne ich? was ist neu? Wie verhält sich A zu B? Verhält sich A' zu B' genau so? Warum? Warum nicht? usw... Und wie werden die Situation sowie die Reaktion und die Folgen wahrgenommen? Wird Reflektiert?

Das legt schon die Vermutung nahe, dass Lernen auch immer mit gedanklichen Prozessen verbunden ist - und das bedeutet Anstrengung und Arbeit. Dazu ist einfach nicht jeder in der Lage oder willens.

Weiterhin relevant ist die Art der Lernsituation: Bringt es einen unmittelbaren Vorteil, die geistige Arbeit des Lernens zu verrichten? Je eher dies der Fall ist, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Lernsituation auch genutzt wird.
In der Schule besteht zb. der unmittelbare Vorteil darin, dass man mit dem gelernten die nächste Klassenarbeit besser bestehen kann. Gäbe es nur eine Abschlussprüfung und keine kleineren Zwischenprüfungen, wäre die Motivation zu lernen bei vielen eher gering ausgeprägt.

Neugier ist hier natürlich ein Sonderfall: Der unmittelbare Vorteil liegt nicht in der Anwendbarkeit des gelernten, sondern in der Befriedigung, etwas neues gelernt zu haben.

Anderes Beispiel: Hartmut will im Aldi Brötchen kaufen. Da die Aufbackbrötchen ausverkauft sind, muss er den Brötchenautomaten benutzen, der ihm natürlich vollkommen fremd ist, weil er außer seinem Fernseher in den letzten 17 Jahren keine Maschine bedient hat. Deswegen muss Hartmut nun das Bedienen der Brötchenmaschine erlernen. Dazu gibt es drei Wege:
1. Lesen der Anleitung (Knopf drücken, Brot kommt),

2. Modelllernen: Hartmut plaziert sich geschickt und unauffällig neben dem Brötchenautomaten und wartet bewegungslos, bis ein erfahrener Kunde die Maschine in Gang setzt. Er beobachtet, verarbeitet und speichert das neu erworbene Wissen, welches er sogleich zur Anwendung bringen kann.

3. Try-and-Error: Hartmut fingert im Brotauswurfschacht herum und gerät mit seinen Fingern in ein schreckliches Mahlwerk, das ihm die Hand zerhäckselt. Mit der anderen Hand prügelt er auf die Maschine ein, bis er irgendwann zufällig den roten Knopf trifft - das Brötchen kommt. Vielleicht verliert er noch 2-3 Finger und prügelt noch weitere Male auf den Automaten ein, bis er merkt, dass es einen Zusammenhang zwischen Brötchen und roten Knöpfen gibt. Wenn er jetzt zufällig ins Weiße Haus eingeladen wird, Lust auf Brötchen bekommt, und Gelerntes übermäßig generalisiert, hat er nun die Fähigkeit, ungewollt die Erde zu vernichten.

Am wahrscheinlichsten sind natürlich die Varianten 2 und 3 ;) Denn niemand liest Anleitungen.
In dieser Situation lohnt es sich aber, den Lernaufwand zu betreiben und kognitive Arbeit zu verrichten, weil die Situation einen unmittelbaren Vorteil bringt.

Das Problem bei der Thematik ist, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Mitglied einer 'bildungsfernen Schicht' keinen unmittelbaren Vorteil (und wahrscheinlich noch nicht mal einen mittelbaren Vorteil) darin erkennen kann, sich kritisch mit bildungsorientierter Literatur auseinanderzusetzen.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und ändert seine Meinung und Ansichten nur sehr ungern. Insbesondere dann nicht, wenn dazu ein Lernaufwand notwendig wäre.

Die Abneigung gegen anstrengende Geistesarbeit nimmt zu, je näher ein Individuum der 'bildungsfernen Schicht' steht.

Das ist leider ein Teufelskreis aus Vererbung, Sozialisierung, mangelnder Bildung und einem Lebensstil, der Lernen überflüssig macht oder unangenehm-nachteilig erscheinen lässt ("Hartz-IV-TV").

Und was ist, wenn der g-Faktor feststeht? Würde es helfen, einseitig positive Stereotypen in die Welt zu setzen?

Wie bereits angedeutet: Der 'g'-Faktor ist, wenn er erstmal erreicht ist, relativ konstant über die Lebensdauer. Oder, um ein anderes Modell zu bemühen: Wenn die Fluide Intelligenz (damit ist kognitives Potential, das keiner bestimmten Fähigkeit zugeordnet ist) in kristalline Intelligenz (das ist gefestigtes Potential, also zb. mathematisches denken, sprachliche Kompetenz, grob: "Wissen") umgewandelt ist, gibt es keine Möglichkeit mehr, die kristalline Intelligenz großartig zu beeinflussen.

Die Sache mit den einseitig positiven Stereotypen halte ich für genau so gefährlich wie die einseitig negativen. Denn: Sie entsprechen, genau wie die negativen, nicht der 'Realität' (sofern es sie denn gibt).
Wenn jetzt jemand, der mit einseitig positiven Stereotypen aufgewachsen ist, ein paar Erfahrungen macht, die dem Bild in seinem Kopf widersprechen, so führt das zu einer Revision dieses Bildes - und zur Anfälligkeit für die einseitig negativen Stereotype. Denn der Mensch neigt dazu, positive Erfahrungen hinter negativen Erfahrungen zurücktreten zu lassen. Das ist evolutionär bedingt und ist auch heute keine sinnlose Überlebensstrategie: Es ist wichtiger zu wissen, was einem "schadet", als zu wissen, was einem "nicht schadet". Daher weiß man, was man meiden muss (giftige Beeren, böse Bären...).
Und das ist eigentlich auch keine genuin menschliche Verhaltens- und Lernstruktur, sondern sie ist - soweit ich das erkennen kann - den meisten Säugetieren eigen. Katzen verfahren so, Kaninchen, Vögel, Affen usw. auch. Das legt den Schluss nahe, dass es sich universell als die beste Überlebensstrategie erwiesen hat. Man lernt eben aus Fehlern, nicht aus dem, was man richtig macht.

Daher glaube ich, dass die gute Absicht mit den einseitig positiven Stereotypen sogar gegenteilige Folgen und Wirkungen haben könnte.

Folgefrage: Welche grob vereinfachten Bilder sollte man dann verbreiten?
 

Telepathetic

Großmeister
Registriert
16. Oktober 2010
Beiträge
764
@Themis: Danke! Das Buch 'Folk Devils and Moral Panics' wird in dem Video 'Atheist Experience #584; Moral Panics', das ich in 'Lustige Links' mit dem Linktitel "San-ta Claus will take you .. to hell" versehen hatte, kurz vorgestellt. Das Thema des Videos bezieht sich direkt auf das Buch. Mir ist erst während des Schauens bewußt geworden, dass auch ich nicht vor der Fixierung von Folk devils gefeit bin. Allerdings sehe ich auch, dass übergeneralisierende Falschannahmen in persönlichen Erfahrungen wurzeln und dass diese Falschannahmen durch Reflexion neutralisiert werden können.



Wenn der g-Faktor nicht mehr erhöht werden kann, wie erklärt sich dann überhaupt, dass jemand etwas lernt? Ich begreife die persönliche Motivation als sehr wichtig für das Lernen. Jemand ist unzufrieden mit seinen Lebensumständen oder mit seiner Leistung, möchte verändern. Dazu setzt sich diese Person hin und denkt nach. Fragt sich: "Was ist die Ursache meiner Unzufriedenheit?" Rein bezogen auf die Aussage, dass ein niedriger g-Faktor in der Kindheit zu stärkeren Vorurteilen im Erwachsenenalter führt, müßte eine Person mit niedrigem g-Faktor zur Antwort gelangen: "Schuld sind die soundso. Besserung kann nur erreicht werden, wenn die soundso in irgendeiner Form besiegt und damit in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt werden." Eine Person mit hohem g-Faktor würde dagegen sein Problem detaillierter betrachten und eine auf sich selbst maßgeschneiderte Lösungsstrategie entwickeln.

Niedriger g-Faktor: einseitige Sicht- und Handlungsweisen.

Hoher g-Faktor: vielseitige Sicht- und Handlungsweisen.


Bezogen auf Beschulung: Kinder aus Niedrig-g-Faktor-Haushalten haben vermutlich kaum Anreiz, sich um Bildung zu bemühen. Womöglich versperren Vorurteile gegenüber der eigenen sozialen Herkunft den Weg. Was mich an einen Artikel in der FAZ erinnert, in dem ausgedrückt worden ist, dass die Menschen in den unteren sozialen Schichten eher von einer Undurchlässigkeit ihrer Schicht ausgehen und dass diese Weltsicht mit höherer sozialer Zugehörigkeit abnimmt. Anders gesagt Hartz IV-Kinder sind eher mit dem Glauben konfrontiert, in einer Sackgasse zu stecken und dort sozusagen gottgegeben steckenbleiben zu müssen. Warum also Lernen? Warum überhaupt versuchen auch nur irgendetwas zu erreichen? Wer an dieser Situation etwas verändern will, sollte dementsprechend diesen Kindern vermitteln, dass sie eben doch etwas erreichen können. Zu Eigeninitiave ermuntern.

Das ist jedenfalls besser als Stereotypen zu pflegen. haruc, ich gebe Dir recht, dass das Einbringen von positiven Stereotypen eine gefährliche Seite haben kann. Jemand erkennt, dass der Stereotyp falsch ist und fühlt sich belogen. Je mehr sich dieser Jemand auf den Stereotyp als richtig verlassen hat und sein Streben auf diesem Stereotyp aufgebaut hat, desto stärker ist die Enttäuschung. Besser wäre es das philosophische Denken und Argumentieren zu lehren.

Immerhin werden die deutschsprachigen Medienrezipienten seit Jahren auf 'eigenverantwortliche Bildung bis in's hohe Alter' eingeschworen. Es ist auch z.B. so, dass alte Menschen im Allgemeinen zu mehr Leistung (und Wohlgefühl) fähig sind, wenn sie ausreichend physisch und intellektuell stimuliert werden. Das konnte ich sogar während meines Zivildienstes direkt miterleben. Zweimal in der Woche Gymnastik, einmal in der Woche Bastelstunde, sonst einfach nur gesellig sein und den Geschichten lauschen, dass hat einige dieser Menschen etwas fitter werden lassen.

haruc schrieb:
3. Try-and-Error: Hartmut fingert im Brotauswurfschacht herum und gerät mit seinen Fingern in ein schreckliches Mahlwerk, das ihm die Hand zerhäckselt. Mit der anderen Hand prügelt er auf die Maschine ein, bis er irgendwann zufällig den roten Knopf trifft - das Brötchen kommt. Vielleicht verliert er noch 2-3 Finger und prügelt noch weitere Male auf den Automaten ein, bis er merkt, dass es einen Zusammenhang zwischen Brötchen und roten Knöpfen gibt. Wenn er jetzt zufällig ins Weiße Haus eingeladen wird, Lust auf Brötchen bekommt, und Gelerntes übermäßig generalisiert, hat er nun die Fähigkeit, ungewollt die Erde zu vernichten.
:lach3:
 

haruc

Ehrenmitglied
Registriert
16. Dezember 2002
Beiträge
2.494
Wenn der g-Faktor nicht mehr erhöht werden kann, wie erklärt sich dann überhaupt, dass jemand etwas lernt?

Der 'g' Faktor ist ja wie gesagt nur eine abstrakte Größe, die sich aus einer Summe von unendlich vielen Einzelfaktoren zusammensetzt und ist ein Maß für kognitive Leistungsfähigkeit. Davon ist aber das reine Lernen von Wissen abgekoppelt. 'g' ist also eher ein Maß für das Vermögen, mit Wissen umzugehen, es zu benutzen, hinterfragen, umzuformen, anzupassen und anzuwenden, als die "Größe des Gefäßes", in das man Wissen einfüllen kann. Es gibt ja durchaus leute mit einem niedrigen 'g' die über ein erstaunliches Enzyklopädisches Wissen verfügen. Theoretisch könnte so ein Mensch die komlpette Wikipedia auswendig runterrattern, wäre aber gleichzeitig nicht in der Lage, einen Zusammenhang zwischen Artikel A und Artikel B zu erkennen (oder eben zu erkennen, dass es keinen Zusammenhang gibt).



Ich begreife die persönliche Motivation als sehr wichtig für das Lernen. Jemand ist unzufrieden mit seinen Lebensumständen oder mit seiner Leistung, möchte verändern. Dazu setzt sich diese Person hin und denkt nach. Fragt sich: "Was ist die Ursache meiner Unzufriedenheit?" Rein bezogen auf die Aussage, dass ein niedriger g-Faktor in der Kindheit zu stärkeren Vorurteilen im Erwachsenenalter führt, müßte eine Person mit niedrigem g-Faktor zur Antwort gelangen: "Schuld sind die soundso. Besserung kann nur erreicht werden, wenn die soundso in irgendeiner Form besiegt und damit in ihren Handlungsspielräumen eingeschränkt werden." Eine Person mit hohem g-Faktor würde dagegen sein Problem detaillierter betrachten und eine auf sich selbst maßgeschneiderte Lösungsstrategie entwickeln.

Die Externalisierung von Misserfolgen ist - wie du gesagt hast - zum Teil auch durch die Sozialisierung bedingt. Jemand der mit dem Vorurteil aufwächst, dass "Die Juden unser Unglück" sind, wird dieses Denkschema auch beibehalten. Dies umso mehr, je niedriger die Fähigkeit zu Selbstreflexion ist (korreliert auch mit 'g').
Andererseits gehört auch die Internalisierung von Mißerfolgen zu diesem Schema. Man bezieht alles, was einem widerfährt auf sich selbst und sucht die Ursachen nur bei sich. Dass das genau so falsch ist wie der erstgenannte Fall, ist offensichtlich.

Bezogen auf Beschulung: Kinder aus Niedrig-g-Faktor-Haushalten haben vermutlich kaum Anreiz, sich um Bildung zu bemühen. Womöglich versperren Vorurteile gegenüber der eigenen sozialen Herkunft den Weg. Was mich an einen Artikel in der FAZ erinnert, in dem ausgedrückt worden ist, dass die Menschen in den unteren sozialen Schichten eher von einer Undurchlässigkeit ihrer Schicht ausgehen und dass diese Weltsicht mit höherer sozialer Zugehörigkeit abnimmt.

Richtig. Auch das ist durch Erziehung bereits determiniert. Menschen aus dem "unteren" Bildungsbereich tendieren öfter zu einer deterministischen oder fatalistischen Weltsicht und schätzen die eigenen Handlungsmöglichkeiten als gering oder nicht existent ein. (Das ist auch ein Grund, warum mich das Gerede vom "kleinen Mann" so dermaßen nervt. Die Leute machen sich damit selber "klein" und sorgen gleichzeitig dafür, dass sie es bleiben...)
Das führt eben dazu, dass Menschen, die so denken, sich zur Erklärung ihrer Situation Ursachen raussuchen, die außerhalb ihres eigenen Handlungsraumes liegen. Zumal: Wer sich in der Rolle des passiven Opfers wohl fühlt, meint das moralische Recht auf seiner Seite zu haben. Das ist angenehm und wird nicht gerne aufgegeben.

Die Erkenntnis, dass man als Individuum für sein Handeln selbst verantwortlich ist, und dass damit verbunden die eigene Situation zu großen Teilen auch eine Folge der eigenen Handlungen ist, ist mit der passiven Opferrolle nicht vereinbar. So lange sich also Leute gewissermaßen darauf ausruhen, dass ihnen die Hände angeblich gebunden sind und sie nur ein Korken sind, der auf den Wellen treibt, so lange wird sich auch nichts daran ändern.
 

Telepathetic

Großmeister
Registriert
16. Oktober 2010
Beiträge
764
Wenn also die Höhe des g-Faktors genetisch vorbestimmt ist und gleichzeitig die Interessen eines Menschen durch die Urspungsfamilie und deren Ansichten am stärksten und anhaltendsten geprägt werden und diejenigen mit niedrigem 'g' eher Gefahr laufen, politisch einkassiert zu werden, dann bleibt ja eigentlich nur noch, dass die 'Anderen' ein Gegengewicht bilden. Im Prinzip das, was sich auch heutzutage noch überall beobachten lässt. Da geht es um z.B. um den Glauben an die moralische Überlegenheit der eigenen Nation, Religion, der eigenen Clique und um die Ausweitung von Territorium.

Es scheint auch keine Hinweise darauf zu geben, dass sich daran etwas ändern wird. Die europäischen Nationalstaaten haben sich nach dem zweiten Weltkrieg dazu entschlossen, miteinander ein Europa des Friedens zu gestalten. Es mußte erstmal zu einer gewaltigen Katastrophe kommen, die niemand wiederholt sehen wollte, bevor die Staaten aufeinander zugegangen sind. Die Katastrophe des zweiten Weltkrieges hat aber die atomare Aufrüstung nicht verhindern können. Auch nicht die zig Kriege die nach 1945 stattgefunden haben. Ebenso nicht den Terrorismus.

Aus dem Grunde kann ich auch nicht daran glauben, dass "Gott", "die Liebe" oder wie man auch immer dazu sagt, zu einem bestimmten Termin erscheint und alle Menschen gleichermaßen ergreift. Ein solcher Glaube bewirkt nur was, wenn man aktiv an sich selbst arbeitet, damit man eben nicht mehr nur ein Korken ist, der auf den Wellen treibt. Dafür muß man aber auch erstmal erkennen, dass man ein Korken ist. Und man muß erkennen, auf wessen Wellen man treibt.

Ich denke aber auch, dass genau das gerade geschieht. Das sich viele Menschen sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Und das zählt mehr als ein Glaube. Ich denke, dass Glaube eine geringere Rolle spielt, als Machtverhältnisse und die Charaktere, die miteinander umgehen müssen. Beim Lesen von Bright Minds habe ich mich immer wieder mal an den Emotionalquotienten erinnert. Dabei geht es um Selbsterkenntnis und Einfühlungsvermögen in andere Menschen. Aber auch hier gilt wohl das, was für 'g' gilt: Menschen kommen mit unterschiedlichen Anlagen auf die Welt.

Vielleicht kommen aus der Friedensforschung praktikablere Ansätze.
 

Telepathetic

Großmeister
Registriert
16. Oktober 2010
Beiträge
764
Ich möchte zwei Stellen aus dem Essay "Madness and Liberation" zitieren und in Bezug zu Bright Minds bringen.

In conclusion, it is important for me to point out that we are all mad to a certain extent. The madmen are not "them," but, rather, are "us." We all spin the web of maya, and we are all caught up in the grasping of that culturally constructed identity which we have come to know as "I."
(...)
The difference between the "madman" who we pathologize and the madman which lurks at our own "world axis" is a matter of degrees. Those of us who are generally considered "normal" are able to assimilate into the general narrative structure of our culture -- in a sense, fitting our narrative identity into the larger narrative of our cultural action system.
Der Autor von Madness and Liberation, Brent Dean Robbins, Duquesne University, zeigt in seinem Essay den fundamentalen Unterschied zwischen dem pathologisch Verrückten und dem "visionären Poeten" auf. Beide "erfahren eine Zerstörung ihres Egos (ihres Ichs im Sinne des Zitats), welches das Selbst und die Anderen trennt." Der Unterschied ist mit der "emotionalen Qualität der Erfahrung" verbunden. Der pathologisch Verrückte verliert den Bezug zur Realität, findet keinen Halt mehr, ist einsam, unverstanden und isoliert. Der "visionäre Poet" durchschaut Maya - die "allgemeine Erzählstruktur" und das "kulturelle Handlungssystem" - und vermag es die neu gewonnenen Einsichten in den Alltag zu integrieren und womöglich sogar weiterzugeben.

Bezogen auf das Ergebnis, dass in Bright Minds erleutert wird, nämlich dass "kognitive Fähigkeiten eine substantielle Rolle spielen, nicht nur um Vorurteile vorherzusagen, sondern auch um deren potentielle Vorläufer vorherzusagen: rechte Ideologien und authoritäre Wertsysteme, welche soziale Ungleichheit durch die Betonung der Aufrechterhaltung des Status Quo verewigen können, und ein Mangel an Kontakt und Erfahrung mit Fremdgruppen"*, stelle ich folgende Behauptungen auf:

Je niedriger das 'g', desto wahrscheinlicher Anpassung und sture Aufrechterhaltung des Status Quo und damit auch eher die Neigung Ansichten, die dem Status Quo widersprechen, als geistig krank zu bewerten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die bewertende Person eine andere Person oder sich selbst als geistig krank einstuft.

Warum? Je niedriger das 'g' desto geringer die Fähigkeit, Wissen anzueignen und Zusammenhänge realitätsnah zu interpretieren. Zudem bestätigt sich die "allgemeine Erzählstruktur" und das "kulturelle Handlungssystem" der Eigengruppe laufend selbst. Kann eine Person nur schwer durch das Angelernte hindurchschauen und wird von den Angehörigen der Eigengruppe in seiner tunnelartigen Sicht stets bestätigt, dann ist es wahrscheinlicher, dass eine plötzliche neue Perspektive als unpassend, unnormal, bis hin zu krank, bzw. gestört bewertet werden kann und dementsprechend wird eine Person mit niedrigem 'g' eher eine Lösung suchen, die sie lediglich in den alten Zustand zurückbringen soll. Die gering ausgebildete Fähigkeit, die Sicht auf die Welt bewußt zu weiten plus die plötzliche erweiterte Sicht erzeugt Angst vor dem Fremden und einer möglichen Isolation innerhalb der Eigengruppe.

Alle Bemühungen werden dann auf die Aufrechterhaltung der als allein für wahr gehaltenen Illusion gerichtet. Abweichung von der Illusion ist ungemütlich und gefährlich.

Anders gesagt: je niedriger das 'g' desto gefangener und desto bereitwilliger im Netz von Maya.


*cognitive ability plays a substantial role not only in predicting prejudice, but also in predicting its potential precursors: right-wing ideologies and authoritarian value systems, which can perpetuate social inequality by emphasizing the maintenance of the status quo, and a lack of contact and experience with out-groups.
 

hives

Ehrenmitglied
Registriert
20. März 2003
Beiträge
3.651
Danke für die Kommentare zu "Bright Minds", denen ich mich auch anschließen kann (auch wenn es natürlich bspw. in der Intelligenzforschung abweichende Modelle gibt, würde deren Einbeziehung, soweit ich das überblicke, wenig an den Folgerungen ändern), insbesondere der Aussage von haruc, dass man "den durchschnittlichen Generalfaktor 'g' einer Population" wohl nur sinnvoll erhöhen könnte, indem "mehr Individuen länger beschult werden."
Wobei ich sagen würde, dass der Begriff "Beschulung" in diesem Kontext vielleicht auch eher breit gefasst werden könnte.


Hier noch eine weitere Arbeit zur Thematik, die jedoch den Aspekt ideologischer Ähnlichkeit betont und zum Schluss kommt, dass "liberals" intoleranter als Konservative sind, wenn es um konservative Gruppen geht:
Chambers, John R., Schlenker, Barry R. and Collisson, Brian, Ideology and Prejudice: The Role of Value Conflicts (February 15, 2012). Psychological Science, Forthcoming.

Vor allem die erste der drei beschriebenen Studien klingt m.E. jedoch etwas seltsam: Grundsätzlich werden die Ansichten von "liberals" und "conservatives" zu "liberal groups" und "conservative groups" miteinander verglichen. Während im Abstract von "African-Americans and homosexuals" als "liberalen Gruppen" die Rede ist, erfolgt bei den "konservativen Gruppen" eine rein idelogische Abgrenzung, was auch im eigentlichen Text der Studie für die "liberalen Gruppen" zu gelten scheint. Die Ansichten zu Afro-Amerikanern mit denen zu christlichen Fundamentalisten zu vergleichen, und daraus zu folgern, dass "liberals" das intolerante Gegenbild zu "conservatives" darstellen, würde ich für durchaus problematisch halten, aber ich warte mal auf die Endversion der Arbeit.
 

haruc

Ehrenmitglied
Registriert
16. Dezember 2002
Beiträge
2.494
hives schrieb:
Wobei ich sagen würde, dass der Begriff "Beschulung" in diesem Kontext vielleicht auch eher breit gefasst werden könnte.

Ja. Das charakteristische Merkmal von "Beschulung" in diesem Kontext ist, zumindest sofern ich das richtig verstanden habe, dass über einen längeren Zeitraum gezielt, bewusst und strukturiert Bildungs- und Lerninhalte verinnerlicht und bewusst gemacht werden.

"African-Americans and homosexuals" als "liberalen Gruppen"

Also ich verstehe das so, dass diese Gruppen von den "Conservatives" als "liberal" wahrgenommen werden.

"[...]conservatives expressed more prejudice than liberals against groups that were identified as liberal (e.g., African-Americans, homosexuals)"

Ja, könnte durchaus interessant sein, die Studie.
 

Telepathetic

Großmeister
Registriert
16. Oktober 2010
Beiträge
764
Ich bin mittlerweile zur Meinung gekommen, dass dem Faktor "friedliches vs. gewalttätiges Klima in der Familie / der zugehörenden sozialen Einheit (z.B. die Nation)" plus einem entsprechenden polarisierenden Weltbild nicht genügend aufmerksam gewidmet wird. Ebenso fehlt der Faktor "Gewaltdarstellungen / -verherrlichung in den Medien (einschließlich Computerspielen)" und der Faktor "psychische Störung", wobei ich denke, dass letztgenannter Faktor auch ein Ergebnis von Traumatisierung durch Gewalt ist. (In diesem Zusammenhang: PTSD Nation (ist zwar auf Amerika bezogen, aber letztlich sind auch die Amerikaner nur Menschen)

Mit anderen Worten: der 'g'-Faktor wird zwar durch "Beschulung" erhöht, aber Wissensvermittlung alleine verhindert Vorurteile, Ausgrenzung und Gewalt gegen Andere nicht notwendigerweise. Wie erklärt sich denn z.B. die Einstellung derjenigen hoher Politiker, allesamt universitär studiert, die Andersdenkende mit Totschlagargumenten auszugrenzen versuchen? Wie erklärt sich das Verhalten von Wissenschaftlern, die ihre Fähigkeiten in den Dienst selbiger Politiker stellen und Studien anfertigen, die zu einem vorherbestimmten Resultat führen? Da diese Menschen über einen überdurchschnittlich hohen Allgemeinbildungsstand verfügen müssten, sollte auch deren 'g'-Faktor überdurchschnittlich hoch sein und damit die Anfälligkeit für Vorurteile usw. niedriger.

Dementsprechend glaube ich nicht an den Erfolg von "Beschulung" im Dienste des Friedens. Zumal es eindeutig ist, dass desinteressierte Schüler von der Beschulung nicht viel haben, außer Mißerfolgserlebnisse wegen schlechter Noten und wegen eventueller Ausgrenzung der Schüler mit den besseren Noten. Was ich als einen Effekt des Zustandes unserer heutigen Gesellschaft sehen will, die sich immer mehr in Gewinner und in Verlierer aufzuspalten scheint. Außerdem nimmt dieses Schulsystem keine Rücksicht auf die natürlichen Unterschiede ihrer Schüler und regt die natürliche Neugier von Kindern in keinster Weise an. Dagegen herrscht der Zwang vorbestimmte Inhalte lernen zu müssen. Die Schüler, die von ihrer Anlage her zum Schulsystem passen, sind da klar im Vorteil.

Schlußfolgerung: Reduzierung von Vorurteilen, Ausgrenzung und Gewalt gegen Andere kann nur gelingen, wenn Kinder gewaltfrei aufwachsen können und dazu gehört notwendigerweise, dass Eltern in allen Lebenslagen (außer in Situationen in denen Notwehr und Nothilfe gerechtfertigt sind) gewaltfrei handeln. Anstatt also Moral zu predigen und sich selbst von dieser Moral auszunehmen, sollten Eltern echte Vorbilder sein.
 

hives

Ehrenmitglied
Registriert
20. März 2003
Beiträge
3.651
haruc schrieb:
Also ich verstehe das so, dass diese Gruppen von den "Conservatives" als "liberal" wahrgenommen werden.

Hier nochmal das Zitat:
"[...]conservatives expressed more prejudice than liberals against groups that were identified as liberal (e.g., African-Americans, homosexuals), but less prejudice against groups identified as conservative (e.g., Christian fundamentalists, business people)."

Der Unterschied besteht für mich darin, dass Erstgenannte eine über eher "askriptive" Merkmale gebildete Gruppe (bei Homosexuellen ist das natürlich eine kontroverse Frage, also beschränke ich das Argument mal auf die Gruppe der Afro-Amerikaner) sind, Letztgenannte jedoch über zumindest theoretisch veränderliche, freiwillig oder zumindest soziokulturell "erworbene" Merkmale definiert werden. Die eine Zuordnung wäre somit m.E. schon an sich ein Vorurteil und höchstens im Sinne statistischer Diskriminierung rationalisierbar, die andere zumindest im Falle der Fundamentalisten sogar objektiv gerechtfertigt.

Aber ich habe mir gerade die Methodik etwas genauer angesehen und es wurden in Studie 1 insgesamt 34 verschiedene Untergruppen verwendet, wobei für "Liberale" und "Konservative" jeweils beide beschriebene Arten der "Gruppenbildung" genutzt werden. Das Abstract ist m.E. aus diesem Grund in der Auswahl der exemplarisch aufgeführten Gruppen ein wenig irreführend, mein Einwand ist jedoch letztendlich nur genereller Natur und bezieht sich nicht auf eine systematische Verzerrung der Ergebnisse. Was die Interpretation angeht, wirken die genannten Implikationen auf mich jedoch noch etwas einseitig - mal abwarten, ob das so bleibt.

@Telepathetic: In den verlinkten Studien werden ja auch gezielt nur Einzelaspekte untersucht. Für eine Integration verschiedener Ansätze und Ideen zur Thematik (der von dir genannte Aspekt der Gewaltdarstellung wird bspw. durchaus in medienwissenschaftlichen Studien thematisiert) müsste man wohl in stärker theorielastigen Arbeiten suchen. Ein nicht ganz aktueller kurzer Überblick (auch) zur theoretischen Erklärung von Vorurteilen bspw. in "The handbook of social psychology" unter "Stereotyping, prejudice, and discrimination". (Zum durchaus interessanten Aspekt der gebildeten Menschen, die Vorurteile haben oder nutzen, schreibe ich vllt. noch ein andermal was.)
 

haruc

Ehrenmitglied
Registriert
16. Dezember 2002
Beiträge
2.494
Telepathetic schrieb:
Mit anderen Worten: der 'g'-Faktor wird zwar durch "Beschulung" erhöht, aber Wissensvermittlung alleine verhindert Vorurteile, Ausgrenzung und Gewalt gegen Andere nicht notwendigerweise.

Gute Beobachtung, die ich teile.

Der Grund ist, dass Beschulung nicht gleich Bildung ist. Bildung wird zwar heute häufig gleichgesetzt mit Beschulung, aber im pädagogischen Sinne handelt es sich dabei um zwei Konzepte, die wenig miteinander zu tun haben.

Beschulung meint den Ausbau der kognitiven Leistungsmerkmale und das Vermitteln/Erwerben von Wissensinhalten und Kompetenzen (wobei sich Kompetenzen zum Teil mit kognitiven Leistungsmerkmalen überschneiden können).

Bildung hingegen zielt eher auf die Ausformung eines ethisch-moralischen Bewusstseins einerseits und andererseits auf die Befähigung zur Auseinandersetzung mit sich und der Welt ab. Wenn man so will ist Sozialisierung auch ein Teil von Bildung.

Bildung kann also im Rahmen von Beschulung geschehen, muss es aber nicht. Beschulung ist kein Garant für Bildung.

Gegenwärtig treffen in Deutschland einige höchst ungünstige Strömungen aufeinander.
1.Bildung und der Erwerb von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten findet außerhalb der Schule immer seltener statt. Unsere moderne Lebensrealität ist zunehmend von Anonymität geprägt, während gleichzeitig soziale Interaktion in den formfreien Raum verlagert wird. Heißt: Ein Teil der sozialen Interaktion spielt sich nicht mehr von Mensch zu Mensch ab, sondern über ein Medium wie zb. Telefon, Sms, Facebook usw. Bei diesen Kommunikationsformen fehlen erhebliche Bestandteile der "normalen" Kommunikation, ihr Erwerb und ihre Anwendung werden vom Regelfall zur Ausnahme. Folge: Sozialisierung läuft zunehmend schief. Individuen sind zur normalen Interaktion zwischen Menschen weniger befähigt. Auch das "soziale Lernen", also der Erwerb von Wissen, Fähigkeiten usw. der über das Erlernen sozialer Interaktion hinaus geht, geht durch die Einseitigkeit der Kommunikationswege zunehmend verloren. Das trifft zwar in der härteren Ausprägung nur auf eine kleine MInderheit zu, aber leider eben gerade auf die Minderheit, die es sich aufgrund ihrer Bildungs- und Beschulungschancen eigentlich nicht erlauben kann. Folglich werden die ohnehin schon im Bildungsprozeß Benachteiligten zusätzlich benachteiligt werden.

2. Aktuelle Bildungsreformen steuern diesem Trend nicht entgegen, sondern verstärken ihn noch!
Gründe sind hier insbesondere die Einführung verkürzter Schulzeiten, die inhaltliche Umorientierung seit PISA und die Einführung von Gesamtschulen.

Die Inhaltliche Umorientierung lässt sich zb. ganz gut an der neuerdings geforderten "Kompetenzorientierung" ablesen. Was sind Kompetenzen? Nichts anderes, als nicht-personenbezogene einstudierte Abläufe, die ein vorhersagbares Verhalten auf eine Vorhersagbare Situation festlegen. Wenn man einem Orang-Utan beibringt, auf einen Knopf zu drücken, damit Futter aus dem Auswurfschacht kommt, dann ist das eine Kompetenz (wobei man in dem Kontext wohl von "Dressur" sprechen würde". Kompetenzen zielen also eher auf eine behaviouristische Verhaltensmodifikation ab, als auf Bildung.

Im Gegensatz dazu stehen die (alten) Lernziele. Lernen ist definiert als ein kognitiver Prozeß, an dessen Ende eine dauerhafte Verhaltensänderung steht. Wenn ich also zb. lerne, dass die Nazis Juden vergast haben, werde ich Nazis danach nicht mehr toll finden (es sei denn ich finde "Juden vergasen" gut, aber das ist dann ein Fall für die Psychiatrie). Solche Sachen werden von der Kompetenzorientierung aber garnicht oder nur ungenügend erfasst.

Es scheint mir also so, dass die (neue) Kompetenzorientierung eher dazu dient, den zukünftigen "Roboter" Mensch mit einer Grundausstattung an Leistungsmerkmalen (Features) auszustatten, bevor er das Fließband verlässt und auf den Arbeitsmarkt geschleudert wird... Die Schule wird damit zur Montagehalle zukünftiger Arbeitskräfte degradiert.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Verkürzung der Schulzeiten einerseits die Stoffmenge entweder reduziert oder kozentriert, andererseits der "Schutzraum" Schule nicht mehr so lange zur Verfügung steht, um den Reifeprozeß eines Menschen zu begleiten, und das in Zeiten, in denen die geistige, seelische und moralische Reife immer später erreicht wird.
Weniger Freiräume, auch zeitlicher Natur, bedeutet gleichzeitig weniger Zeit für Reflexion und Bildung. Denn Bildungsprozesse bedürfen immer einer "Nachwirkphase" in der das gelernte verinnerlicht und umgewälzt wird. Fehlt die Zeit dazu, bleiben die Bildungsprozesse auf "halber Strecke" im Schlamm stecken.
Das Resultat sind zunehmend ungebildete Menschen.

Gesamtschulen verschlimmern all das noch, indem sie die individuellen Bedürfnisse der Schüler weitestgehend ignorieren - denn alle sind ja gleich und haben gefälligst gleiche Bedürfnisse zu haben. Das bewusste und gezielte Herbeiführen von Heterogenität im Klassenraum hat als einzige Begründung die sozialromantische These, dass jeder Mensch irgendwo Schwächen und Stärken hat und alle voneinander profitieren, wenn man sie zusammen in einen Klassenraum steckt.
Faktisch bedeutet dies, dass der Lehrer nun die klassische Dreiteilung des Schulsystems im KLassenraum wiederherstellt, da er ja auf die Individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Schüler eingehen muss. Da man unmöglich auf jeden einzelnen eingehen kann (bei Klassengrößen über 20 schon praktisch unmöglich. Regelklassengrößen liegen etwa bei 25-30. In der Praxis z.t. drüber!) muss man also wieder Leistungsgruppen herstellen. Da gibt es die Förderbedürftigen, die mit dem Stoff nicht mitkommen, dann gibts die, die damit zurecht kommen, und letztlich jene Gruppe, die total unterfordert ist. Zwar gab und gibt es Abstufungen auch im klassischen dreigliedrigen Schulsystem, aber dort fallen sie in der Regel innerhalb einer Lerngruppe weniger krass aus, weil der Bedarf an Differenzierung innerhalb einer eher homogenen Gruppe geringer ist.
Damit bleiben mehr Ressourcen für Bildungsrelevante Lernprozesse übrig.

Unbestreitbar bleibt die Tatsache, dass auch Heterogenität eine Lern- und Bildungschance eröffnet. Aber sie muss auch genutzt werden. Wenn schon erhebliche Verluste allein bei der Durchführung des Unterrichts bestehen, weil ein Lehrer quasi drei Klassen gleichzeitig unterrichten muss, dann bleibt dafür eben weniger Zeit.

3. Wird die Universität zunehmend "verschult". Die Gründe hierfür sind ganz pragmatisch: Erstens begünstigt die starke Lenkung des Bachelor-Master-Systems das Fortführen von unselbstständigen, aus der Schule gewohnten Denkmustern, zweitens sind die Studenten dank G8 und Ende der Wehrpflicht mittlerweile im Schnitt 18 statt 20 Jahre alt und gehen lückenlos von der Schulbank in den Hörsaal. Ich erspar mir hier die Ausführung, warum Bildung im Humboldtschen Sinne in einem System, das bis ins letzte Detail alles vorschreibt und keine Freiräume lässt, nicht stattfinden kann. Ich denk, das ist offenkundig.


Durch die Rahmenbedingungen, an die Schulen gebunden sind, wird Bildung zunehmend unmöglich. Die Heranziehung von reinen Technokraten wird in den Vordergrund gerückt, während klassische Bildung kaum eine Rolle mehr spielt.

Wie erklärt sich denn z.B. die Einstellung derjenigen hoher Politiker, allesamt universitär studiert, die Andersdenkende mit Totschlagargumenten auszugrenzen versuchen? Wie erklärt sich das Verhalten von Wissenschaftlern, die ihre Fähigkeiten in den Dienst selbiger Politiker stellen und Studien anfertigen, die zu einem vorherbestimmten Resultat führen?

Macht und Geld.

In einer Gesellschaft, in der der pure Eigennutz und Utilitarismus zur obersten Maxime und sozialen Norm erklärt wird, darf man nicht erwarten, dass Menschen, wenns um Geld und Macht geht, sich plötzlich in christlicher Nächstenliebe üben.
Zudem gibts in der Politik einige Spielregeln. Eine davon hat heute der Herr Gabriel illustriert: "Deine Gegner haben niemals Recht und müssen immer zurücktreten". Um das zu erreichen ist eben fast jedes Mittel legitim.

Anstatt also Moral zu predigen und sich selbst von dieser Moral auszunehmen, sollten Eltern echte Vorbilder sein.

Ja. Soziales Verhalten, und um nichts anderes geht es ja, lernt man nicht auf der Schulbank, sondern im Umgang mit Menschen. Dabei spielen einige Menschen eine wichtigere Rolle als andere. Diese Schlüsselfiguren der Sozialisierung sind jene angesprochenen Vorbilder - in der Regel das familiäre Umfeld und später der Freundeskreis / peer group / Kohorte.

Diese Menschen sind in jeder Hinsicht "Vorbilder" - im Guten wie im Schlechten. Und so vererben sich auch defizitäre Verhaltensweisen und Wertvorstellungen.

Neben einer stärkeren Hinwendung zur Bildung und einer Anpassung der Schule an die Bedürfnisse der Schüler sehe ich gerade in der Vorbildfunktion des sozialen Umfeldes einen wichtigen Ansatzpunkt. Aber leider (und gleichzeitig zum Glück!) ist dieser Bereich der staatlichen Intervention weitestgehend entzogen.

Was bleibt also? Wir müssen dafür sorgen, dass die Schule den Aufgaben, die auf sie abgeladen werden, wieder gerecht werden kann.
 

Telepathetic

Großmeister
Registriert
16. Oktober 2010
Beiträge
764
haruc schrieb:
Es scheint mir also so, dass die (neue) Kompetenzorientierung eher dazu dient, den zukünftigen "Roboter" Mensch mit einer Grundausstattung an Leistungsmerkmalen (Features) auszustatten, bevor er das Fließband verlässt und auf den Arbeitsmarkt geschleudert wird... Die Schule wird damit zur Montagehalle zukünftiger Arbeitskräfte degradiert.
Ersteinmal vielen Dank für Deinen riesenlangen Text!

Zu dem obigen Zitat habe ich noch ein paar Sätze beizusteuern. Mir erscheint auch, dass der Mensch heutzutage auf bestimmte geforderte Eigenschaften reduziert wird. Individuelle Bedürfnisse zählen nichts, Rücksicht wird höchstens dann genommen, wenn offiziell eine Krankheit / Störung diagnostiziert worden ist. Wobei ja laut Medienberichten, Internet-Foren und Selbsthilfe-Verbänden eher der Trend zu beobachten ist, Bedürfnisse medikamentös zu unterdrücken, statt den Bedürfnissen ihren benötigten Raum zu geben.

Nicht nur, dass Schulen und Unis lediglich Wissen eintrichtern und Verhalten festlegen sollen, nein, es wird auch mit der Angst gearbeitet, dass Abweichungen von den modernen Anforderungen an Arbeitsdisziplin und Verhalten unausweichlich im sozialen Aus resultieren. Daraus ergibt sich ein emotionaler Stress, der - plus ein Verhalten, das - sich auch auf die Gesundheit auswirkt.

Es gibt in der heutigen durchorganisierten Welt dem Anscheine nach keinerlei Alternativen mehr. Das ist höchst unerfreulich für diejenigen, die durch die Raster fallen, für die Systemverlierer. Diese haben in der heutigen Welt am wenigsten Spielraum und am wenigsten Anreiz überhaupt irgendetwas zu tun als untätig zu sein und depressiv zu werden oder untätig zu sein und zu feiern. Oder beides zusammen. Angesichts vieler allgegenwärtiger legal nicht überwindbarer HIndernisse in der Berufswelt kein Wunder. Wer nicht in das Raster des Systems passt, für den gibt es keine Verwendung. Der moderne Sozialstaat ist dementprechend nicht primär dazu da, um Menschen in Not vor einem Leben auf der Straße zu bewahren, sondern um die Systemverlierer aufzufangen.

Lösung kann also nur sein, dass gegenwärtige Gesamtsystem in einen Zustand zu bringen, der dem individuellen Menschen gerecht wird und gleichzeitig allen anderen Menschen wenigstens nicht schadet. Dementsprechend kann ich Deinem Satz "Neben einer stärkeren Hinwendung zur Bildung und einer Anpassung der Schule an die Bedürfnisse der Schüler sehe ich gerade in der Vorbildfunktion des sozialen Umfeldes einen wichtigen Ansatzpunkt." nur zustimmen.
 

agentP

Forenlegende
Registriert
10. April 2002
Beiträge
10.115
tumblr_lwlf3fjrbC1r2iofho1_500.jpg
 

Simple Man

Forenlegende
Registriert
4. November 2004
Beiträge
8.452
Wer hat sich das nicht schon einmal gefragt?

Smithsonian Institution Libraries: "Some Irreverent Thoughts about Dinosaur Metabolic Physiology: Jurisphagous Food Consumption Rates of Tyrannosaurus Rex" (PDF)
It is agreed by all living humans that the highlight of the movie Jurassic Park (Universal Studios, 1993) was the consumption of the lawyer by the true hero of the movie, Tyrannosaurus rex. This brings up an obvious question: How many lawyers would it take to properly feed a captive T. rex?
 

Simple Man

Forenlegende
Registriert
4. November 2004
Beiträge
8.452
Proceedings of the National Academy of Sciences: "Persistent cannabis users show neuropsychological decline from childhood to midlife" (Abstract)
Recent reports show that fewer adolescents believe that regular cannabis use is harmful to health. Concomitantly, adolescents are initiating cannabis use at younger ages, and more adolescents are using cannabis on a daily basis. The purpose of the present study was to test the association between persistent cannabis use and neuropsychological decline and determine whether decline is concentrated among adolescent-onset cannabis users. Participants were members of the Dunedin Study, a prospective study of a birth cohort of 1,037 individuals followed from birth (1972/1973) to age 38 y. Cannabis use was ascertained in interviews at ages 18, 21, 26, 32, and 38 y. Neuropsychological testing was conducted at age 13 y, before initiation of cannabis use, and again at age 38 y, after a pattern of persistent cannabis use had developed. Persistent cannabis use was associated with neuropsychological decline broadly across domains of functioning, even after controlling for years of education. Informants also reported noticing more cognitive problems for persistent cannabis users. Impairment was concentrated among adolescent-onset cannabis users, with more persistent use associated with greater decline. Further, cessation of cannabis use did not fully restore neuropsychological functioning among adolescent-onset cannabis users. Findings are suggestive of a neurotoxic effect of cannabis on the adolescent brain and highlight the importance of prevention and policy efforts targeting adolescents.

Der Tagesspiegel: "Kiffen macht dumm"
Wer bereits vor dem 18. Lebensjahr regelmäßig Cannabis konsumiert, schadet seinem Gehirn dauerhaft. Gerade in der Pubertät sei der Suchtstoff nicht harmlos, meinen Forscher.
 

Ähnliche Beiträge

Oben