Zeit für Entzug?

zerocoolcat

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Sanfte Grüsse!

Folgender Text hat mich zum Erstellen dieses Threads veranlasst:

gunkl schrieb:
Geschätzte Vernetzte,

Wir haben ja im Abendland einige geistige Errungenschaften vollbracht, derer wir uns gerne in die Brust werfen; eine dieser Errungenschaften ist die Trennung von Privatem und Öffentlichem. - Die Trennung von Privatem und Öffentlichem ist ein Kulturgut; - vielleicht nicht so offensichtlich wie die Demokratie, aber sicher so wichtig wie ein Mindestmaß an Umgangsformen. Es ist eben wichtig, daß man sich bei seinen Gefühlsäußerungen aussuchen kann, wer sie sieht, und genauso wichtig ist, daß man sich aussuchen kann, wessen Gefühlsäußerungen man sich anschaut. Ich denke, jeder Mensch besitzt soviel Anstand, daß er nicht auf irgend eine Hochzeit geht, sich neben den Priester hinstellt und das Brautpaar anstarrt, um ein Gefühl zu sehen, niemand würde es wagen, auf irgend ein fremdes Begräbnis zu gehen, sich vor den Trauernden aufzupflanzen und die anzuglotzen, nur damit er jemanden wirklich weinen sieht. - Das Fernsehen aber und manche Zeitschriften tun genau das. Ich möchte den aufklärerischen oder zumindest informativen Aspekt von Kriegsberichterstattung einmal ausklammern, ich rede davon, daß sich das Fernsehen selbst zu den Eltern von irgendwelchen Schirennläufern einlädt, und dann während der Live-Übertragung diesen Eltern mit der Kamera zuschaut. ("Jössas!, Mamma, da Bua!") - Ganz nah und ganz deutlich zeigt mir die Kamera jemanden, den ich nicht kenne, und der vor allem mich nicht kennt, bei tiefsten Empfindungen. - Es geht mich nichts an! Mich und alle Fernsehzuschauer geht das nichts an! - Oder es gibt Zeitschriften, deren Reporter den Hausmüll von Prominenten durchwühlen und den dann vierfarbig und kommentiert abdrucken, und es gibt Fernsehsendungen, da werden Menschen eingeladen, sich bis an die Grenze der körperlichen Belastbarkeit zu verausgaben, und weil es dabei um viel Geld geht, tun die das dann auch, und die Kamera immer voll drauf! "Alles echt! Kein doppelter Boden! - Dieses Paar hat nicht gewonnen! Sie können nicht nur kaum noch atmen, nein! - Sie sind auch richtig verzweifelt! - Das seh´n wir uns näher an, da woll´n wir ganz nah ´ran, sowas sieht man nicht alle Tage, das wollen wir ganz genau sehen!" - Um jemandem in Momenten des Glücks oder der Verzweiflung so nahe sein zu dürfen, muß ich schon mit ihm gemeinsam in die rhetorische Sandkiste geschissen haben. - Natürlich wird da eingewendet: " Ja, das ist halt das wirkliche Leben! Das Fernsehen zeigt nur das, was wirklich ist! Natürlich hätten wir das alle gern, wenn es noch eine Privatsphäre gäbe, aber die gibt es halt nicht mehr, dafür kann man das Fernsehen doch nicht verantwortlich machen!" - Aso. Kann man nicht!? - Ich weiß nicht, wie geht das? Wie kommen Millionen Menschen gleichzeitig auf die Idee, daß es nichts mehr gibt, was nur zwei Menschen und sonst niemanden etwas angeht? Wie funktioniert das?! - Geht da einer von Tür zu Tür, läutet an, und sagt: "T´schuidign, äh, Privatsphäre - is vorbei!" Und die Leute sagen darauf: "Aha, na is auch gut." Und wenn er alle durch hat, geht er zum Fernsehen und sagt: "Die andern wissen´s schon, jetzt sag´ ich´s Ihnen auch; Privatsphäre is gestorben!" Und das Fernsehen sagt daraufhin: "Mah, oag! Des müss´ma reflektier´n, jetzt müss´ma Sendungen moch´n wie BITTE VERZEIH´ MIR und TRAUMHOCHZEIT und NUR DIE LIEBE ZÄHLT!" - Glaub´ ich nicht, daß sich die Zerstörung der Idee von Privatsphäre so abgespielt hat! - Ein anderes sehr gern gebrauchtes Argument ist - "Ja, die Leute wollen das eben sehen, wenn jemand wirklich weint, wenn jemand richtig verzweifelt ist, die Leute wollen echte Tränen sehen, die Filmtränen reizen doch niemanden mehr!" - Einem Drogenkonsumenten in diesem Stadium würde ich sagen: "Es ist jetzt Zeit für einen Entzug!"

Quelle: www.gunkl.at, zu finden unter "Texte" > "Andere Texte" > "Wochenschau" > "4", das Ganze ist die Homepage eines österreichischen Kabarettisten, dessen Formulierkunst meines Erachtens nach unübertroffen ist.


Ich weiss, wir hatten hier schon öfters ähnliche Themen, jedoch geht es mir hier um das in dem Text Angesprochene:
Wer bestimmt, wo die Privatsphäre anfängt?
Gibt es sie wirklich nicht mehr?
Wie weit geht das Fernsehen noch, um "echte" Emotionen zeigen zu können?
Sind das dann überhaupt echte Emotionen?
Wollt ihr die überhaupt?
Könnt ihr euch vorstellen, "berühmt" zu sein, ständig verfolgt zu werden?
Sind dann so "Auszucker" gegen Paparazzi verständlich(er)?


MfG
Zero
 

NormaJean

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Meine Güte Zero, du stellst Fragen 8O
Das geht ja in so viele verschiedene Richtungen - meine frühere Deutschlehrerin hätte ihre wahre Freude an so einem Thema gehabt :roll:

zerocoolcat schrieb:
Wer bestimmt, wo die Privatsphäre anfängt?
Wohl jeder einzelne für sich - in Talk Shows kehren manche ihr innerstes nach außen und andere reden nichtmal im Büro mit ihren Kollegen über ihr Privatleben und was sie am WE so vorhaben. Eine einheitliche Linie scheint es da nicht zu geben...
Ich persönlich suche mir auch sehr genau aus, mit wem ich über was rede - lockere Plaudereien hin oder her, wirklich persönliche Dinge bespreche ich nur mit ein paar wenigen engen "Vertrauten"

zerocoolcat schrieb:
Gibt es sie wirklich nicht mehr?
Nur wenn man selbst keinen Wert darauf legt. Ich habe schon oft bemerkt, dass der Gesprächspartner sehr wohl merkt, was angemessen ist und was nicht (z.B. auch im Bezug auf den persönlichen "Sicherheitsabstand" - ich mag's nicht sehr, wenn mir jemand zu nah auf die Pelle rückt, ich will meinen Gegenüber ansehen können und hasse es, wenn derjenige meinem Blick ausweicht). Es kommt ganz selten vor, dass ich mal jemanden ausbremsen muß und wirklich sagen muß "Hey, das geht dich nix an" oder "Darüber möchte ich nicht sprechen".
Wirklich interessant ist es teilweise bei Leuten, mit denen man gar nicht direkt kommuniziert. Wenn man z.B. mit ein paar Leuten gemütlich in einem Cafe, Restaurant was-auch-immer sitzt und am Nebentisch sitzt jemand (oder durchaus auch mal zwei - vorzugsweise ein älteres Ehepaar), der dann die ganze Zeit rüberstarrt und ganz offen bei Gesprächen mithört, die ihn aber absolut nichts angehen, über Leute, die er gar nicht kennt. Da denk ich mir dann schon öfters "Ja hallo, geht's noch?!" - sowas würde mir total widerstreben.

zerocoolcat schrieb:
Wie weit geht das Fernsehen noch, um "echte" Emotionen zeigen zu können?
Der Text wurde ja vor solchen "Perlen" wie Big Brother und "Ich bin ein Star..." geschrieben (anläßlich des Todes von Prinzessin Diana) - ich weiß allerdings echt nicht, was sie sich als nächstes einfallen lassen. Ein Blick nach Japan läßt übles erahnen...

zerocoolcat schrieb:
Sind das dann überhaupt echte Emotionen?
Beim Publikum oder bei den Leuten in der Sendung? Die Menschen in der TV-Sendung sind da sicherlich emotional sehr aufgewühlt (haben vielleicht durch den Druck und den Streß auch näher am Wasser gebaut als im "normalen Leben") - ob das so "gesund" ist weiß ich allerdings nicht. Hinterher ist ihnen das ein odere andere vielleicht peinlich oder sie sind mit ihren öffentlich Beichten weiter gegangen, als sie eigentlich beabsichtigt haben.
Das Publikum bekommt ja nur ein "Second-Hand-Gefühl" - da ist irgendwie armselig und läßt den Schluß zu, dass diejenigen kein erfülltes eignes Leben haben (Bsp. ältere Damen, die sich einsam fühlen, lesen mit Vorliebe diese Klatschzeitschriften, die beim Friseur ausliegen).

zerocoolcat schrieb:
Wollt ihr die überhaupt?
kann ich gut drauf verzichten

zerocoolcat schrieb:
Könnt ihr euch vorstellen, "berühmt" zu sein, ständig verfolgt zu werden?
eher nicht - ich würde mich wohl wie Ernst-August mit einem Regenschirm bewaffnen oder noch besser: einen großen grimmigen Hund kaufen

zerocoolcat schrieb:
Sind dann so "Auszucker" gegen Paparazzi verständlich(er)?
Für mich schon - ist halt deren Berufsrisiko :wink:
Wer so dreist sich in das Leben anderer einmischt und mit der Kamera hinter irgendwelchen Büschen lauert, muß schon mal damit rechnen, dass er mal ein paar aufs Maul kriegt - da hab ich echt kein Mitleid...
 

dkR

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Das Problem ist weniger das Fernsehen als eher diese nach Aufmerksamkeit heischenden Leutchen, die bei diesem Stuss mitmachen.
Ich geh doch nicht zur "Supernanny" und oute mich vor dem gesamten RTL-Publikum als unfähige Eltern. Wie Mediengeil muß man bitte sein, um sich selbst sowas anzutun?
Vielleich fühlt sich ja das Publikum besser, wenn sich andere Leute noch dööfer anstellen als sie sich selbst (also der Zuschauer)?
 

zerocoolcat

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...das wird in dem Text ja angesprochen...
Die gehen ja nicht zum Fernsehen und sagen: "Wir sind unfähig, macht ne Sendung über uns!", sondern das Fernsehen sucht sich so Leute.
Klar, wenn keiner mitmacht, passierts nicht, aber doch liegt die Initiative bei den Sendern, oder?
 

dkR

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Ich denke eher die Sender geben ne Bekanntmachung raus "suchen Leute, die bei folgendem Blödsinn mitmachen", die Leute bewerben sich beim Sender und werden dann entsprechend ausgewählt. Glaube nicht, dass RTLII bei jedem Haushalt in D anruft und fragt "wollen Sie sich selbst bei Supernanny (oder Superhundepsychologin, oder IchbineinunfähigerHeimwerker oderoderoder) blamieren?"
Die Sender geben den Leuten einfach die Chance ins Fernsehen zu kommen und die lasse dann alles mit sich machen, nur um gesendet zu werden. Ein Verhalten, dass so ziemlich das genaue Gegenteil von meinem ist :O_O:
 

NormaJean

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Aber so langsam gehen ihnen wohl schon die "Deppen" aus - zumindest in den Talk Shows. Da sind ja jetzt auch viele gestellt.
Ebenso wie diese Gerichtssendungen, da hieß es doch am Anfang, das seinen echte Fälle und das Urteil der guten Frau Salesch sei rechtsgültig usw. und jetzt sind das irgendwelche Möchtegern-Sauspieler die da im Gerichtssaal rumhampeln (das sind welche, die sind so schlecht, dass sie sogar von GZSZ abgewiesen wurden!). Wahrscheinlich hatten echte Fälle nicht solche haarsträubenden Wendungen in der "Geschichte" :O_O:

@dkr: Mach dir mal den Spaß und kuck im Teletext von RTL zu den einzelnen Talkshows :D - da suchen sie zu bestimmten Themen Leute, die darüber sprechen möchten (z.B. "Du bist schwanger und wurdest sitzengelassen, erzähl Olli deine Geschichte"). Also es geht schon vom Sender aus und die suchen auch die Themen raus...
Man fragt sich da echt, wer dann daheim vor der Glotze sitzt und sich denkt: "Mensch, die meinen ja mich!" und da dann anruft :roll:
 

Ellinaelea

Großmeister
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...

korrigiert mich, wenn ich falsch liegen sollte... Aber haben sich die Leute, die bei solchen Sendungen mitmachen, nicht freiwillige exakt dafür gemeldet; reissen sich manchmal sogar um solche Auftritte? Und ist es nicht jedermans eigene Sache, ob er sich sowas dann auch ansieht? Also hier in der Schweiz empfangen wir per Kabel etwas über dreissig deutschsprachige Sender. Zappt einfach weiter, wenn euch was nicht passt oder tretet gleich in den Fernsehstreik und spendet das Teil irgendeiner Organisation :)

Die Adligen haben insofern einfach das Pech gehabt, in blaublütige Familien hineingeboren zu werden. Aber sie nutzen die Vorteile davon, also warum sollen sie dann nicht auch mit den Nachteilen leben müssen? Ausserdem gibts wohl reichlich Adlige, von denen noch nie jemand was gehört hat. Es geht also auch ohne Medienrummel. Wenn hingegen so ein blaublütiger Affe in der Öffentlichkeit durch die Gegend pinkelt, ist er echt selbst schuld an den Reaktionen.

Bin beim Rumzappen übrigens mal in dieser "hunde-nanny-sendung" gelandet (keine Ahnung mehr, wie das Ding richtig heisst). Ich fand es aber sehr interessant. Hab ich doch selbst schon vielen Menschen bei Problemen mit ihren Tieren geholfen und die Tipps in dieser Sendung waren durch die Bank sinnvoll und lehrreich.
Und wenn nur ein einziger Hundehalter durch diese Sendung lernt, richtig mit seinem Tier umzugehen und es daher eine Beissattacke weniger gibt, so rechtfertigt das in meinen Augen diese Sendung bereits. Über die Art der Präsentation kann man sich natürlich streiten. Aber ich denke, dass damit eben genau das Publikum erreicht wird, das auch gesucht ist.

Zu Gerichtssendungen, Talkshows und so kann ich nichts sagen, da ich bei denen nie länger als 1-2 Minuten hängen bleibe *ggg*

Und was den Aspekt der "Volksverdummung" anbelangt, der setzt sich ja im Print-Dschungel fort. Jemand der Sendungen guckt, wie die im Eingangspost erwähnten, der kauft sich auch die dazu passenden Zeitungen und Magazine.

Es gibt zuviele Sender und jeder will den anderen ausstechen und da es um Geld und Position geht, sind eben alle Mittel recht. Gut ist, was verkauft werden kann. So läuft die Wirtschaft.
Ich denke, das Problem sind nicht die Sendungen. Ich seh die als Symptom und nicht als Ursache. Das Problem ist vielmehr die gnadenlos Konkurrenz- und Hierarchie-Kultur in der Grundstruktur unserer Gesellschaft. Schneller, besser, höher, klüger, richtiger, schöner, etc... Jeder will das Beste und verkaufen lässt sich wirklich nur das, was auch gekauft wird.
 

JimmyBond

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Gibt es sie wirklich nicht mehr?

nach den worten von jon voigt in staatsfeind nr. 1 privatsphaere gibt es seit 100jahren nicht mehr, der rest davon existiert in deinem kopf oder so..

wer seine privatsphaere schuetzen will muss auch was dafuer tun. meiner einer laesst sich z.b. nicht filmen oder interviewn. alles was ich tue oder sage (egal ob privat oder beruflich) geht die oeffentlichkeit nix an.

hier ein kleiner auszug aus dem lied "gegen den strom"

such a surge schrieb:
Und der private Sender zeigt mir die Realität?
Sensationsgeilheit, während sich mir der Magen umdreht.
Blutdurst, live von Ort, die Kamera dabei,
was wären wir ohne die Asse der Polizei.
Notruf, orginalgetreu nachgestellt .
Auf der Couch hautnah dabei, Action ist was unterhält!
Augenzeugen, Video, sensationell reell,
Gier nach Action-News, oder R.T.L.-Aktuell.
Kinderzimmer, Blutrausch, Horror ungeschnitten.
Kinderaugen geblendet, privater Sender sendet
rund um die Uhr, Programmkapazität,
denn für visuelles Konsumieren ist es nie zu spät.
Volkshypnose, Gehirnmetamorphose,
der Fernseher verkabelt, der Zuschauer vernagelt,
eure Hölle ist aus Eis, ein Meer muss drunter sein.
Eure Hölle schweigt mich tot, ich schlag den Fernseher ein.
 

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