Produktivitätserwartung -- ein Erbe der Nazizeit?

InsularMind

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Ich schreibe das mal hier rein, obwohl ich mir nicht so sicher war, ob es unter Philosophie besser wäre, diese Frage zu stellen. Vielleicht hätte es auch in den Hartz-Thread gepasst, oder in andere so ähnliche.

Produktivitätserwartung scheint in der aktuellen Gesellschaft vorausgesetzt zu werden, wenn ein Mensch ein lebenswertes, qualitativ akzeptables Leben erreichen möchte. Das ganze System beruht auf dem Gegenleistungsprinzip, weswegen das Geben oder Schenken ohne die Erwartung einer Gegenleistung ein Schattendasein führt. Langjährige Überlegungen zum Lebenssinn oder der Lebenswertigkeit lassen mich in stetigem Konflikt mit dem Produktivitäts-Ideal stehen.
Schon unter den Nazis hat man unterschieden, Produktive von Unproduktiven in ihrem Wert für die Gesellschaft zu untertrennen. Die waren nur etwas radikaler als heute, und haben dafür gesorgt, dass Unproduktive weg gemacht wurden. Ich frage mich heute öfter, ob diese sture Erwartungshaltung an Produktivität ein Erbe aus den Gedanken dieser Zeit ist, die sich weiter vermehren und immer noch durch die Köpfe geistern.
Man muss sich ab und zu fragen, warum Eltern ihre Kinder versorgen, wo sie nicht absehen können, wie deren einstiges Produktivitätsergebnis aussehen wird.
Warum versorgen Menschen temporär Unproduktive, oder umstandshalber unproduktiv Gewordene überhaupt, wenn die Produktivität der einzige, rechtmäßige Nennwert für gesellschaftliche Akzeptanz sein soll?
Ich will damit nicht durch die tonnenschweren Speckschichten der Leistungsstarken sticheln, für die der Produktivitäts-Takt nicht schnell genug oder hoch genug schlagen kann. Ich frage mich auch, warum alternativ erwirkte Produktivität so gern übersehen wird, wenn sie nicht primär dem Hauptziel der Verwertung dient. In der Einordnung zwischen unproduktiv und produktiv finde ich, dass der Fokus auf das Menschliche zerrieben wird, also die Motive, weswegen wir einst anfingen, uns über Leistung und Gegenleistung zu definieren, scheinen dazu hin zu führen, dass wir unsere spezifisch-individuellen Leistungsgrenzen vergessen, die Verschiedenheit der Produktivitätspotenziale ignorieren, und Leute, die unseren Produktivitätsanforderungen nicht gewachsen sind, wieder neu mit Unwertigkeiten belegen.
Menschenklassen werden demnach auf der Basis von Werten geschaffen, die über Produktivität beurteilt werden. Wo führt das hin? Irgendwann wieder dazu, dass man Lager für Leute baut, die zu diesen Modalitäten auch dann nicht aufleben können, wenn sie sich 5-fach in der Mitte zerreißen? ... sie weiter bestraft, wenn es an der Gegenleistungskraft fehlt...

Und wo bleibt die Menschlichkeit dabei? Hängt die auch am Produktivitätswert fest? Werdet ihr ( Gesellschaftsfolger ) von euren Kindern / Alten dafür Geld verlangen, dass sie leben dürfen? Ist Geld / Gegenleistung alles, wofür ihr lebt, oder euch über Produktivitätserwartungen wirklich von jeglicher Würde entblößen lasst?
Werden in der Zukunft die so eingeordneten 'Unproduktiven' wieder zur Zwangsarbeit verdonnert, oder einfach weg geschafft / verhungern gelassen werden?
Macht eine Diskussion draus, oder lasst es.
 

Simple Man

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Also, ich glaube nicht, dass diese sog. Produktivitätserwartung Erbe der Nazizeit ist. Vielmehr ist das Reziprozitätsprinzip doch schon seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte Teil des sozialen Zusammenlebens. Daher erklärt sich imhO auch, warum wir unschuldig und temporär in Bedrängnis geratenen helfen, dies bei faulen aber nicht tun. Sprich: wenn der Jäger aus der Nachbarhöhle sich bei der gemeinsamen Jagd das Bein bricht, dann unterstützen wir ihn, bis er wieder alleine für sich sorgen kann. Wenn der sich aber hinstellt und sagt, dass er sich nicht an der Jagd beteiligen möchte, würde ihm wohl kaum einer was vom Fleisch abgeben wollen.

Und ich glaube nicht, dass sog. Unproduktive in unserer Gesellschaft per se weggeschafft werden oder bestraft. Nicht umsonst gibt es Dinge wie die Rente, Pflegeheime, Krankengeld, Erwerbsunfähigkeitsrenten, Sozialverbände, Hilfe für Behinderte, ehrenamtliches Engagement etc. ...
 

NoToM

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InsularMind schrieb:
Ich frage mich auch, warum alternativ erwirkte Produktivität so gern übersehen wird, wenn sie nicht primär dem Hauptziel der Verwertung dient.

Es wäre hilfreich, wenn Du die Alternativen etwas genauer aufzeigen könntest. Was ist "alternativ erwirkte Produktivität"? Würde es helfen, wenn das Individuum allgemein anspruchloser wäre? Oder anders gefragt, wie sähe ein akzeptabler, minimaler Beitrag des Einzelnen an die Gemeindschaft in Deinen Augen aus?
 
G

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Der Glaube an unendliches Wachstum auf einem begrenztem Raum zeugt immer von Wahnvorstellungen. :read:
 

NoToM

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Du denkst, dass dieser Glaube der Grund für die von InsularMind beanstandete übersteigerte/falsche Produktivitätserwartung ist?
 
G

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Guest
Niemand wird bestreiten, daß in einem begrenzten Raum kein unbegrenztes Wachstum möglich ist.

Wer trotzdem auf so was setzt, muß entweder ein Betrüger sein (Ponzi/Madow), verrückt sein oder von einem religiösen Glauben beflügelt - eine andere Erklärung fällt mir nicht ein, ich bin für weitere Vorschläge aber offen.
 

NoToM

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Das bestreite ich nicht, nur sehe ich den Zusammenhang mit der Frage vom Themenersteller nicht ganz. Aber vielleicht habe ich die Frage auch falsch verstanden...?
 

Ein_Liberaler

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Eigentlich ist es mir ja zu doof...

Aber wir haben mehr Lebensmittel, als wir brauchen. Wir können ohne weiteres 12 oder meintwegen 18 Milliarden Menschen ernähren, wenn wir es endlich schaffen, Friede, Recht und Marktwirtschaft herzustellen. An den Energieressourcen der Welt kratzen wir gerade einmal.

Und dabei sinkt die Geburtenrate.

Den Schwachsinn mit den Grenzen des Wachstums verkaufen sie uns jetzt seit über dreißig Jahren. Es gibt sie nur in der Theorie, erreichen werden wir sie nicht, es sei denn, wir stellen das Denken ein und gebrauchen unseren Verstand nicht mehr für Forschung, Entwicklung und Industrie, sondern für irgendwelchen Quatsch. Religion, was weiß ich.
 
G

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Es geht vor allem darum was jemand glaubt.

In diesem Fall bezieht sich der Glaube darauf, daß es irgendwie "gut" ist Kinder in die Welt zu setzen - und daraus folgt im Umkehrschluß, daß man irgendwie schlecht ist, wenn man es nicht tut.

Die Nationalsozialisten haben daraus eine Mythos gemacht, und der scheint bei einigen Zeitgenossen immer noch zu wirken. Allerdings ist das kein Nazi/Deutsches Problem - sowas gibt es auch bei anderen Kulten.

Erst heute hat die Haderthauer von der CSU den Vorschlag gemacht, daß kinderreiche Eltern mehr Rente bekommen sollen. So wird der Mythos weiter am Leben erhalten.

Warum die Dame glaubt daß ausgerechnet glaubt, daß zukünftige Kindern (wenn sie erwachsen sind) einen Job bekommen, wenn wir schon jetzt Millionen haben die keinen solchen finden und damit nicht in die Rentenkasse einzahlen bleibt ihr Geheimnis.
 

agentP

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In diesem Fall bezieht sich der Glaube darauf, daß es irgendwie "gut" ist Kinder in die Welt zu setzen - und daraus folgt im Umkehrschluß, daß man irgendwie schlecht ist, wenn man es nicht tut.

Wer sieht das denn so ausser ein paar christlich-konservativen Spinnern? Wenn die Mehrheit der Bevölkerung das glauben würde, dann wäre die die Bevölkerung in Deutschland wohl kaum am schrumpfen.
 
G

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agentP schrieb:
...dann wäre die die Bevölkerung in Deutschland wohl kaum am schrumpfen.

Das ist auch ein Mythos.

Die Geburtenraten sind seit der Wiedervereinigung weitgehend stabil

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Deutschland hat ungefähr die doppelte Bevölkerungsdichte wie der EU-Durchschnitt und daran wird sich auch so bald nix ändern.

In den letzten 5 Jahren gab es nur marginale Bevölkerungs-Schwankungen (0,3%)
 

Simple Man

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Na fein, Shechinah, das zum Ersatz der Eltern­generation notwendige Niveau liegt bei etwa 2,1 Kindern je Frau ... bei wieviel liegen wir aktuell? 1,36? :roll:
 

agentP

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Das ist auch ein Mythos.

Die Geburtenraten sind seit der Wiedervereinigung weitgehend stabil

Ich kenne allerdings den Unterschied zwischen Bevölkerungszahl und Geburtenrate und habe daher auch nicht von der Geburtenrate gesprochen.

Die Feinheiten der Zusammenhänge hat ja simple schon angedeutet.
 

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